Für viele Menschen
ist der südamerikanische Kontinent - nicht ganz grundlos - fast
gleichbedeutend mit einem Zufluchtsort nationalsozialistischer Kriegsverbrecher.
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg flohen zahlreiche
Nazis, die in der Schoah eine gewichtige Rolle spielten, nach Lateinamerika
und fanden vor allem in Argentinien Zuflucht. Unter ihnen auch Adolf
Eichmann, der Verantwortliche für die Umsetzung der Endlösung
in ganz Europa, der nach Buenos Aires flüchtete, sowie Josef
Mengele, der Arzt von Auschwitz, der in erster Linie für seine
pseudowissenschaftlichen Experimente an Zwillingen und Drillingen
bekannt wurde (anhand derer er das Geheimnis der Mehrfachgeburten
lüften wollte, um später in Deutschland eine demografische
Explosion herbeizuführen). Diese beiden gelten zwar als die
bekanntesten Flüchtlinge, doch sie waren bei weitem nicht die
einzigen, die in der argentinischen Hauptstadt ein neues Leben begannen.
Da waren auch Walter Kuschmann (oder Pedro Olmo, wie er sich nannte),
Polizeichef von Lvov; Edward Koschmann, einer der Organisatoren des
Massakers an den Juden von Riga in Lettland; Ivo Rojnica, während
des Kriegs Gouverneur von Dubrovnik in Kroatien und wichtiges Mitglied
der faschistischen Bewegung Ustaschi.
Andere grausame Verbrecher liessen sich ebenfalls in Argentinien nieder.
Josef Schwammberger, Kommandant von Rozvadow, Mielea und Przemysl,
alles Arbeitslager in Polen, der eigenhändig eine ganze Reihe
von Gefangenen umgebracht hatte, wohnte in Cordoba. Erich Priebke hatte
sich für Bariloche entschieden: Dieser Gestapo-Offizier in Rom
hatte als Vergeltungsmassnahme für einen Partisanenangriff, bei
dem 30 deutsche Soldaten ums Leben kamen, die Hinrichtung von 335 italienischen
Geiseln veranlasst (unter ihnen 75 Juden). Das Paar Dinko und Nada
Sakic wurde in Santa Teresita aufgespürt; er war Kommandant von
Stara Gradiska gewesen, sie hatte als Aufseherin dieses Frauenlagers
gedient, das an das KZ Jasenovac in Kroatien angeschlossen war und
als „Auschwitz des Balkans“ bekannt wurde.
Die Einreise unzähliger Nazi-Kriegsverbrecher nach Argentinien
kam nicht von ungefähr. Dank dem wichtigen Buch des argentinischen
Journalisten Uki Goñi (Odessa: Die wahre Geschichte) wissen
wir heute, dass die Regierung Peron eine grosszügig finanzierte
Kampagne lanciert hatte, um Asyl suchende Nazi-Verbrecher aufzustöbern
und ihnen in Argentinien Unterschlupf anzubieten. Die Verbrecher der
Schoah brauchten also keinesfalls die Immigrationsbehörden zu
hintergehen, um in Argentinien einzureisen, sondern wurden dort wie
lang erwartete Immigranten willkommen geheissen.
Die Geschichte der Einwanderung von Nazis in anderen Ländern Südamerikas
wurde nicht so ausführlich dokumentiert, doch es steht fest, dass
kein einziges dieser Länder sich so sehr darum bemühte wie
Argentinien oder auch nur vergleichbare Anstrengungen unternahm. Zahlreiche
hochrangige Nazis, die während der Schoah eine wichtige Rolle
spielten, haben dennoch auf diesem Kontinent Zuflucht gefunden. Einige
der Berüchtigsten unter ihnen liessen sich in Brasilien nieder.
Zu den Einwohnern der Stadt Brasilia zählte u.a. Franz Stangl,
stellvertretender Direktor des Euthanasiezentrums Harthern (in Österreich),
Erbauer des Vernichtungslagers Sobibor (wo zwischen 1942 und 1943 insgesamt
250’000 Juden ermordet wurden) und Lagerkommandant von Treblinka.
Sein Stellvertreter in Sobibor, Gustav Franz Wagner, sowie auch Herbert
Cukurs entschieden sich für Sao Paulo. Letzterer war stellvertretender
Befehlshaber des lettischen Kommandos Arajs: Diese aus Freiwilligen
bestehende Todesschwadron war für die Ermordung von mindestens
30’000 Juden in Lettland verantwortlich und nahm aktiv an den
Gemetzeln in Weissrussland teil, vor allem in Minsk. Erinnern wir auch
daran, dass Josef Mengele zu Beginn der 1960er Jahre nach Brasilien
umzog und dort 1979 starb.
In diesen Tagen richtet sich die Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit
der Jagd auf Nazis erneut auf Südamerika: Man versucht Dr. Aribert
Heim aufzuspüren, den weltweit meistgesuchten Nazi-Kriegsverbrecher.
Die Suche konzentriert sich hauptsächlich auf Patagonien im Süden
von Chile und Argentinien.
Heim diente in den Jahren 1940 und 1941 in den drei Nazi-Konzentrationslagern
Buchenwald, Sachsenhausen und Mauthausen als Arzt. In Mauthausen erwarb
er sich im Herbst 1941 wegen der sadistischen Verbrechen, die er an
seinen Patienten verübte, den zweifelhaften Übernamen „Doktor
Tod“. In seinen eigenen gewissenhaften Aufzeichnungen zu den
zahlreichen chirurgischen Eingriffen an seinen Opfern ist nachzulesen,
dass Heim eigenhändig Hunderte von Gefangenen umbrachte, indem
er ihnen Phenol direkt ins Herz injizierte. Er führte ebenfalls
Operationen ohne Betäubung sowie diverse Experimente an den Gefangenen
durch; er zögerte nicht, Organe oder Glieder seiner Opfer zu verwenden,
um sein Büro zu dekorieren. Gegen Ende 1941 wurde er versetzt
und verbrachte den Rest des Krieges in einer Einheit der Waffen-SS
in Finnland. So befand er sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
seit mehreren Jahren nicht mehr am letzten Schauplatz seiner Verbrechen,
Mauthausen. Dies erklärt vielleicht, weshalb er nicht sofort von
den Alliierten verurteilt wurde. Obwohl Heim verhaftet wurde und bis
1947 Gefangener in einem amerikanischen Lager war, gehörte er
nicht zu jenen Personen, die wegen ihrer in Mauthausen begangenen Verbrechen
vor Gericht kamen. Nach seiner Freilassung arbeitete Heim als Gynäkologe
in Deutschland, vor allem in der Stadt Baden-Baden. 1962 standen die
westdeutschen Behörden kurz davor, ihn dort zu verhaften, doch
er war ganz offensichtlich gewarnt worden und es gelang ihm in der
Folge zu flüchten. Bis zum heutigen Tag hat er sich der Justiz
entziehen können. Im Verlaufe der Jahre wurde berichtet, er habe
nacheinander Zuflucht in Ägypten (Anstellung als Arzt bei der
lokalen Polizei), in Kanada, Uruguay und Spanien sowie an einigen anderen
Orten gefunden. Doch er wurde nie geschnappt. Obwohl Heim von Simon
Wiesenthal als einer der bedeutendsten Kriegsverbrecher der Nazis bezeichnet
wurde, die noch auf freiem Fuss sind, sank mit der Zeit das Interesse
an seiner Person.
Der Fall wurde überraschend wieder aktuell, als 2004 einer der
beiden in Deutschland lebenden Söhne von Heim sich ein Finanzdelikt
zuschulden kommen liess. In der Folge wurden die Bankkonten der Familie
unter die Lupe genommen. Die Ermittler waren nicht wenig verblüfft,
als sie in einer britischen Bank ein Konto auf den Namen von Aribert
Heim entdeckten, auf dem eine beträchtliche Summe hinterlegt war:
1'200’000 € in Bargeld und 800’000 € in Wertpapieren
und Obligationen. Die Erben hätten nur einen Totenschein ihres
Vaters vorlegen müssen, um sich das Geld auszahlen zu lassen.
Doch das hatten sie nie getan. Logische Schlussfolgerung: Heim war
noch am Leben. Die deutsche Polizei stellte also eine Sondereinheit
zusammen, die den „Dr. Tod“ finden sollte. Diese Einheit
wandte sich an das Simon Wiesenthal Center, das sie über seine
Pläne zur Operation „Letzte Chance“ informierte, die
in Deutschland im Januar 2005 beginnen sollte. Sie bat uns, dem Namen
von Dr. Aribert Heim im Projekt oberste Priorität einzuräumen,
was wir auch taten, obwohl das Hauptziel der Operation darin bestand,
die Nazi-Kriegsverbrecher ausfindig zu machen, deren Existenz und Aufenthaltsort
uns unbekannt waren.
Seither führen wir intensive Nachforschungen durch, um den Aufenthaltsort
von Heim zu finden, der in der Zwischenzeit auf den ersten Platz unserer
jährlichen Liste der „meistgesuchten“ Verbrecher aufgerückt
ist (dieser Aufstieg ist darauf zurückzuführen, dass Alois
Brunner, die rechte Hand von Eichmann, der sich lange Jahre in Syrien
aufhielt, sicher nicht mehr am Leben ist).
Im Verlauf der letzten dreieinhalb Jahre hat unser Büro in Jerusalem
Hunderte von Hinweisen, Informationen und Anhaltspunkten zu Heim erhalten.
Er wurde an praktisch jedem Ort auf der Erdkugel gesichtet, von einem
Flughafen in Phoenix über Las Vegas bis nach Japan, Vietnam, Belgien, Österreich,
Brasilien, Chile, Argentinien und auch in weiteren Ländern. Nach
der Auswertung aller Daten kamen wir in enger Zusammenarbeit mit der
Sondereinheit der deutschen Polizei zum Schluss, dass Heim sich sehr
wahrscheinlich irgendwo im Korridor zwischen dem chilenischen Hafen
Puerto Monte und dem argentinischen Skiort Sau Carlos di Bariloche
versteckt. Am erstgenannten Ort ist die uneheliche Tochter von Heim,
Waltraud Diharce, geborene Boesen, ansässig. Am zweiten haben
bekanntlich zahlreiche Nazi-Kriegsverbrecher Zuflucht gefunden. Wir
reisten also Anfang Juli nach Südamerika, um die Untersuchungen
voranzutreiben, von denen wir hoffen, dass sie zur Gefangennahme und
Verurteilung Mannes führen werden, der wegen seiner Verbrechen
während der Schoah zu den meistgesuchten Menschen gehört.
Es war von Anfang an klar, dass unser Handlungsspielraum recht beschränkt
war. Wir durften ihn weder eigenhändig verhaften noch ihn gefangen
halten, falls wir ihn aufspüren würden. Wir haben es aber
geschafft, zwei nicht zu unterschätzende Ziele zu erreichen: die
Koordination unserer Bemühungen mit den höheren Polizeiinstanzen
und den Vertretern von Interpol in Chile und in Argentinien, sowie
die Ankündigung der Belohnung von 315’000 € für
die Festnahme von Heim, mit gleichzeitiger Bekanntgabe in den internationalen
Medien seiner schrecklichen Verbrechen, was uns besonders am Herzen
lag. Nach unserem Eintreffen in Patagonien wurde uns nämlich recht
schnell bewusst, wie wenig unsere frühere Kampagne, die 2007 in
Santiago und Buenos Aires lancierte Operation „Letzte Chance“,
von der lokalen Bevölkerung wahrgenommen worden war. Dieses Mal
nahmen, zweifellos dank der Verbreitung in den Medien, mehrere lokale
Informanten Kontakt zu uns auf, die potenziell wertvolle Hinweise für
die Festnahme von Heim liefern konnten.
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