Der Leiter des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem erklärt, warum er Gauck
für den falschen Bundespräsidenten hält. Es geht um dessen Deutung
des Holocausts.
Die meisten Deutschen dürften weder jemals etwas von der Prager Erklärung gehört
noch eine Ahnung davon haben, welche Bedeutung ihr für die Wahl des Bundespräsidenten
innewohnt. Dabei ist es dieses Dokument, das mehr als alles andere einen Schatten
auf die Kandidatur von Joachim Gauck wirft und ernsthafte Zweifel an dessen
Eignung für dieses repräsentative Amt aufkommen lässt.
Die Prager Erklärung wurde am 3. Juni 2008 veröffentlicht und von 27 – hauptsächlich
osteuropäischen – Politikern, Intellektuellen und antikommunistischen Aktivisten
unterzeichnet.
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Von der Formulierung, dass „Gesellschaften, die ihre Vergangenheit vernachlässigen,
keine Zukunft haben“, bis zur Feststellung, dass „Europa nicht vereint werden
kann, wenn es nicht in der Lage ist, seine Geschichte zu vereinen“, und „Kommunismus
und Nationalsozialismus als gemeinsames Erbe“ anzuerkennen seien, ist dies
das Manifest einer Kampagne, die die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und
des Holocaust neu schreiben will.
Die Unterschiede ignoriert
Vordergründig scheint die Erklärung daran zu appellieren, die Verbrechen der
Nationalsozialisten und die der Kommunisten als gleich schlimm anzuerkennen
und die Opfer beider totalitären Regime gleichzubehandeln. Doch bei näherer
Betrachtung zeigt sich, dass die wahren Ziele dieser Kampagne weitaus revolutionärer,
heimtückischer und gefährlicher sind.
Denn dieser Vergleich ignoriert absichtlich die entscheidenden Unterschiede
zwischen der Naziideologie, die darauf abzielte, bestimmte Menschen nur ihrer
Herkunft wegen zu vernichten, und ihrem kommunistischen Gegenstück, dessen
Opfer primär auf Grundlage ökonomischer und politischer Faktoren identifiziert
wurden. Die behauptete Austauschbarkeit beider Phänomene übersieht den präzedenzlosen
Charakter des Holocaust und erhöht die kommunistischen Verbrechen in ihrer
tatsächlichen historischen Bedeutung.
Die Auswirkungen dieser Gleichsetzung können kaum unterschätzt werden.
Auf einer praktischen Ebene wird es vor allem den postkommunistischen Länder
helfen, die Rolle zu verschleiern, die etliche Bürger osteuropäischer Länder
beim Massenmord an den europäischen Juden spielten.
Im Gegensatz zu Nazikollaborateuren in anderen Ländern, die anfangs an
der Vernichtung der Juden mitwirkten, indem sie sie ihres Eigentums und Besitzes
beraubten, sie verhafteten und bei ihrer Deportation halfen, waren etliche
osteuropäische Kollaborateure Teil des Vernichtungsapparats und wirkten aktiv
am Massenmord mit – in ihren Heimatländern, aber oft auch andernorts.
Problem Osteuropa
Unter der kommunistischen Herrschaft hatten sich die Länder Osteuropas
als unfähig erwiesen, einen ehrlichen Umgang mit der Mitwirkung vieler ihrer
Bürger am Holocaust zu finden. Mit dem Ende der Sowjetunion und dem Übergang
zur Demokratie bekamen sie die Gelegenheit dazu, versagten aber kläglich. Die
Regierungen hielten es für politisch schwierig oder gar unmöglich, die Wahrheit
über das Ausmaß der lokalen Kollaboration einzuräumen, die noch lebenden Täter
der Schoah juristisch zu verfolgen und gestohlenes privates oder gemeinschaftliches
jüdisches Eigentum zurückzuführen.
Mit der Erhöhung kommunistischer Verbrechen zum Genozid – worauf die mehrfach
verwendete Formulierung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ abzielt – erhoffen
sich die Unterzeichner der Prager Erklärung, den Blick vom Massenmord an den
Juden auf das Leid der Osteuropäer während des Jochs des Kommunismus zu lenken,
und wandeln dabei Täternationen zu Opfervölkern um.
Mehr noch: Die Bewertung kommunistischer Verbrechen als Genozid würde
es den Osteuropäern erlauben, die osteuropäische Beteiligung am Holocaust gegen
jene Verbrechen aufzurechnen, die von Juden begangen wurden, die im Dienste
Moskaus standen. Gerechtigkeit aber würde so niemandem widerfahren.
Ein Blick auf die konkreten Maßnahmen, die in der Prager Erklärung gefordert
werden, verdeutlicht, wie problematisch es wäre, wenn sich diese Geschichtsschreibung
durchsetzen würde. So ist etwa davon die Rede, den 23. August, der Tag des
Molotow-Ribbentrop-Paktes, zum Gedenktag für die Opfer beider totalitärer Regime
auszurufen.
Befreier und Erbauer
Die Wahl dieses Datums impliziert, dass die Sowjetunion und Nazideutschland
gleichermaßen für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verantwortlich wären
– als wären jene Länder, deren Soldaten den industriellen Massenmord beendeten,
genauso schuldig wie das Regime, das das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
ersonnen, gebaut und betrieben hat. Würde dieser Vorschlag akzeptiert – wofür
sich das Europäische Parlament bereits ausgesprochen hat –, würde der Holocaust-Gedenktag
bald der Vergangenheit angehören.
Ebenfalls problematisch sind die Forderungen nach einer „Überarbeitung
und Angleichung der europäischen Geschichtsbücher“ und nach der Gründung eines
„Instituts für Europäische Erinnerung und Gewissen“, das pädagogische Programme
entwerfen und ein Museum für alle Opfer totalitärer Regime kuratieren soll.
Eine wichtige Aufgabe dieser Institution wäre es demnach, die nationalen auf
die Aufarbeitung „totalitärer Erfahrungen spezialisierten Forschungsinstitute“
zu unterstützen.
Dabei betreiben gerade diese Einrichtungen – etwa das Zentrum für Genozidrecherche
und das Museum für Genozidopfer (beide in Vilnius, Litauen) oder das Museum
für Besatzungen in Riga (Lettland) – eine verzerrte Darstellung des Zweiten
Weltkrieges, da sie sich ausschließlich mit den kommunistischen Verbrechen
beschäftigen und das Thema Kollaboration ausblenden.
Eine derartige Einrichtung in den Rang der Gedenkstätte Yad Vashem in
Jerusalem oder des Holocaust Memorial Museum in Washington zu erheben, würde
ihnen eine unverdiente Anerkennung zuteil werden lassen.
Das Neuschreiben europäischer Geschichtsbücher im Geiste einer unzutreffenden
Gleichsetzung kommunistischer und nationalsozialistischer Verbrechen würde
zukünftige Generationen mit einer vorsätzlich verfälschten Darstellung des
Holocaust aufwachsen lassen, somit den entscheidenden Unterschied zwischen
Tätern und Opfern einebnen, letztlich die Täter von ihrer Verantwortung freisprechen
und alle Fortschritte zunichtemachen, die in den vergangenen 50 Jahren bei
der Erforschung des Holocaust und des Gedenkens daran erzielt wurden.
Legitimes Ziel
Joachim Gauck ist einer von nur drei westeuropäischen Unterzeichnern der
Prager Erklärung und – neben dem früheren tschechischen Präsidenten Vaclav
Havel und dem vormaligen litauischen Staatsoberhaupt Vytautas Landsbergis –
der prominenteste. Als einstiger Menschenrechtsaktivist in der DDR und späterer
Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde sucht Gauck nach einer größeren Beachtung
der kommunistischen Verbrechen – ein ehrenwertes und legitimes Ziel, das Unterstützung
verdient.
Das von ihm mitunterzeichnende Dokument jedoch strebt danach, dieses Ziel
auf Kosten der historischen Wahrheit zu erreichen und damit der westlichen
Zivilisation im Allgemeinen, im Besonderen aber Deutschland enormen Schaden
zuzufügen.
Meiner Meinung nach erlebt Deutschland gegenwärtig einen kritischen Augenblick
in seinem Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust. Einerseits haben
das Wissen um die Judenvernichtung und die Sensibilität dafür unverkennbar
zugenommen. Andererseits gibt es eine merkliche „Holocaust-Ermüdung“. Die Stimmen
derer, die die deutschen Opfer im und nach dem Krieg betonen, werden kühner
und lauter.
In einer Zeit, in der die Gerichtsprozesse gegen der Naziverbrecher langsam,
aber zwangsläufig zu einem Ende kommen und die Debatte über die Vergangenheit
aus der öffentlichen Arena in die Geschichtsbücher verbannt wird, wird der
deutsche Bundespräsident eine lebensnotwendige Rolle als moralischer Kompass
für die deutsche Gesellschaft einnehmen.
Der falsche Mann
Die Haltung und die öffentlichen Erklärungen des Präsidenten werden einen
erheblichen Einfluss darauf ausüben, in welcher Weise Deutschland in den kommenden
Jahren mit der nationalen wie mit der universellen Bedeutung des Holocaust
umgeht. Joachim Gaucks Unterschrift unter der Prager Erklärung ist ein gefährliches
Zeichen, dass er die Bundesrepublik in eine andere Richtung führen könnte,
statt den bisher eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Anstatt auf die zwar nicht perfekte, aber zu großen Teilen doch erfolgreiche
Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit aufzubauen, wird er voraussichtlich
jene Stimmen stärken, die die Bedeutung des Holocaust in der deutschen Geschichte
herunterspielen und das Bewusstsein davon kleinhalten wollen. Anstatt als Vorbild
für das postkommunistische Osteuropa zu dienen, das komplett daran gescheitert
ist, sich seiner blutigen Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg zu stellen, wird
er vermutlich jene Tendenzen stärken, die sich der Verantwortung entziehen
wollen und sich in ihrer Opferrolle suhlen.
Ein Bundespräsident Gauck könnte so Deutschland ebenso Schaden zufügen
wie den Ländern Osteuropas – ganz zu schweigen von den negativen Konsequenzen,
die dies für die Zukunft Europas nach sich zöge. Genau aus diesen Gründen scheint
Gauck in dieser wichtigen Zeit die falsche Person für das ehrenvolle Amt des
deutschen Bundespräsidenten zu sein. taz.de
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