26.01.05 Spiegel Online
  Die letzte Chance der Nazi-Jäger
Von Jule Lutteroth
 
 

60 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft gibt es wohl nicht mehr viele NS-Verbrecher, die ungeschoren davon kamen und heute noch leben. Nun hat das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Deutschland die "Operation last Chance" gestartet: Hinweise, die zur Verurteilung eines Nazis führen, werden mit 10.000 Euro belohnt. Doch die Aktion ist umstritten.

Berlin - Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, brachte es auf den Punkt: "The message is simple", die Botschaft ist einfach: "Es geht um Gerechtigkeit." Und die müsse schnell erfolgen. "Die Zeit läuft uns weg." Möglicherweise gebe es noch Tausende Holocaust-Täter, die für ihre Verbrechen nie angeklagt worden seien, und die heute noch lebten, sagte der Nazi-Jäger bei einer Pressekonferenz, die heute im Berliner Reichstag stattfand. Die bundesdeutsche Bevölkerung solle nun bei der Bestrafung - oder zumindest der Überführung der Verbrecher - helfen. Das sei ihre historische Pflicht. 10.000 Euro lässt sich das Wiesenthal-Zentrum einen Hinweis kosten, der zur Anklage eines NS-Täters führt.

Die "Operation Last Chance" läuft bereits in Polen, den baltischen Staaten und Österreich - mit gutem Erfolg, sagt Zuroff: 329 Namen habe seine Organisation erhalten, gegen 79 Verdächtige sei inzwischen Anklage erhoben worden. Dass es sich in den 329 Fällen um Nazi-Verbrecher handelt, ist allerdings nicht gewiss. Zuroff: "Nicht jeder, der beschuldigt wird, ist auch tatsächlich schuldig." Bevor die Namen an die ermittelnde Staatsanwaltschaft übergeben werden, würden drei Tests gemacht: Lebt der Beschuldigte noch? Ist er noch gesund genug, um eine Gerichtsverhandlung durchzustehen? Wurde er für die Taten angeklagt? Ziel der Aktion sei es, NS-Verbrecher für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen. "Egal wie alt sie sind, ob 75 Jahre oder 105", sagte Aryeh Rubin, Leiter der jüdischen Stiftung Targum Shlishi aus Miami, die das Simon-Wiesenthal-Zentrum bei der Operation unterstützt.

Aribert Heim ist so ein Fall: Der Mediziner ist dringend verdächtig, im Jahre 1941 als SS-Lagerarzt des früheren Konzentrationslagers Mauthausen zahlreiche Häftlinge durch Herzinjektionen ermordet zu haben. Nach ihm wird aufgrund eines Haftbefehls des Landgerichts Baden-Baden international gefahndet. Dass Heim noch lebt, davon ist Zuroff überzeugt: "Er hat auf einer Berliner Bank ein Vermögen von rund einer Million Euro liegen. Wäre er tot, hätten sich seine Erben längst gemeldet."

Dass Heim, Jahrgang 1914, noch unter den Lebenden weilt, schließt auch der Leiter der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen, Kurt Schrimm, nicht aus. "Aber andere große Fische werden heute wohl nicht mehr am Leben sein", sagte er SPIEGEL ONLINE. Eventuell lebe auch SS-Führer Alois Brunner noch. Seit Jahren zirkulierten Gerüchte, wonach der prominente Helfer Adolf Eichmanns bei der Judendeportation aus Wien sich in Damaskus aufhalte, sagte Schrimm.

Dass die Gesuchten durch die "Operation Last Chance" überführt würden, glaubt der Ludwigsburger Oberstaatsanwalt indes nicht: "Ich verspreche mir keinen Erfolg davon. Menschen, die 50 oder 60 Jahre so ein Geheimnis mit sich herum getragen haben, werden nun nicht für die vergleichbar geringe Summe von 10.000 Euro damit herauskommen." Auch dass ein NS-Verbrecher sich selbst stelle, halte er für so gut wie ausgeschlossen, sagte Schrimm. In seiner ganzen Karriere habe er lediglich einen Fall erlebt, dass ein NS-Mann aufgrund seiner eigenen Aussagen überführt wurde. Insgesamt wurden seit 1950 etwa 6500 NS-Verbrecher allein von deutschen Gerichten verurteilt. Wie viele Verbrecher ungeschoren davon gekommen seien, sei nicht abzuschätzen. "Wir kennen ja nicht einmal alle Taten."

Kritik an der "Operation last Chance" kommt von Micha Brumlik, Direktor des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. "Das ist eine überflüssige, gegenaufklärerische Aktion, da hier in erster Linie an niedrige Instinkte, an Geldgier, appelliert wird - und nicht an moralische Selbstverständigung. Scheinbar waren die Veranstalter aber der Meinung, dass ohne die Aussetzung einer Kopfprämie kein Ergebnis zu erzielen wäre", sagte Brumlik SPIEGEL ONLINE. "Anstelle der Aufklärung der Gesellschaft wird hier mit plakativen Mitteln versucht, kurzfristig Aufmerksamkeit zu erregen."

Und weiter: "Selbstverständlich müssen auch diese Verbrechen aufgeklärt werden. Aber: Die Täter, die jetzt noch gesucht werden, sind hoch betagt, vermutlich sind sie weder vernehmungs- noch verhandlungsfähig. Natürlich sollten ihre Taten zur Diskussion gestellt und erforscht werden. Der Weg, den das Simon-Wiesenthal-Zentrum einschlägt, ist aber der falsche."

Konfrontiert mit dem Vorwurf sagte Aryeh Rubin: Kopfgeld auf Verbrecher auszusetzen, sei eine üblich Praxis. Tatsächlich ist für Hinweise, die zur Ergreifung von Aribert Heim führen, bereits eine Belohnung in Höhe von 130.000 Euro ausgesetzt. Vom deutschen Staat.


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