20.01.2016 westfalen-blatt.de
»Es darf keinen Schlussstrich geben«
Von Bernd Bexte

Detmold/Berlin (WB). Der anstehende Auschwitz-Prozess in Detmold stößt auf das Interesse von NS-Opfern und Angehörigen weltweit. Das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) wird den Prozess intensiv begleiten. Denn das Verfahren sei von »beklemmender Aktualität«.

Das IAK wurde 1952 von Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz als Interessenverband gegründet. Derzeit vertritt es nach eigenen Angaben noch etwa 15 000 Auschwitz-Überlebende in 19 Ländern. Das IAK hat sich mit Entschädigungsfragen, der strafrechtlichen Verfolgung der Täter sowie dem Wachhalten der Erinnerung an den Holocaust beschäftigt.

Der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold H. (94), der sich vom 11. Februar an vor dem Landgericht Detmold wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen in Auschwitz verantworten muss, sei von besonderer Bedeutung, sagt Christoph Heubner (66), Exekutiv-Vizepräsident des IAK mit Sitz in Berlin.

Denn es ist der erste Prozess nach dem Fall Gröning, und dieser wiederum war der erste nach vielen Jahren, in dem sich ein ehemaliger SS-Mann aus Deutschland wegen Beihilfe zum Mord in Konzentrationslagern vor Gericht verantworten musste. Gröning (94) war im vergangenen Juli vom Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen in Auschwitz zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. »Es wäre fatal wenn der Fall Gröning als Stellvertreter-Prozess betrachtet würde, mit dem alle anderen noch lebenden Täter ihre Schuld beglichen hätten. Jeder Täter ist individuell schuldig«, sagt Heubner im Gespräch mit dieser Zeitung. »Es darf keinen Schlussstrich geben.«

IAK geht im Vorfeld an die Öffentlichkeit

Um bewusst auch die politische Tragweite der späten juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu betonen, wird das IAK im Vorfeld des Prozesses in Detmold in Zusammenarbeit mit Nebenklagevertretern – unter anderem sind dies der Kemptener Rechtsanwalt Thomas Walther und Prof. Dr. Cornelius Nestler (Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität Köln) – an die Öffentlichkeit gehen. »Einen Tag vor Prozessbeginn, am 10. Februar, werden drei Auschwitz-Überlebende aus Deutschland bei einem Pressegespräch in Detmold ihre Positionen erläutern.« Mittlerweile hätte sich die Einstellung Überlebender – vor allem auch im Ausland – gegenüber der deutschen Justiz verändert. »Es ist kein denunzierender, vorwurfsvoller Blick mehr. Es ist ein wacher Blick, der das Bestreben nach später Gerechtigkeit auch anerkennt.« Die Justiz müsse jetzt eine Aufgabe angehen, die sie jahrzehntelang sträflich ignoriert habe. »Als das IAK gegründet wurde, hat niemand gedacht, so lange auf Prozesse warten zu müssen«, sagt der Historiker, Germanist und Publizist Heubner, der zumindest an den ersten der zwölf Prozesstage in Detmold vor Ort sein wird.

Für die Überlebenden von Auschwitz sei die Anklage des 94-jährigen H. aus Lage »ein weiterer Akt später Gerechtigkeit, der noch einmal die Verbrechen von Auschwitz und die Bilder ihrer in Auschwitz ermordeten Angehörigen in das Licht unserer Tage rückt«. Darüber hinaus sei dieser Prozess angesichts rechtsextremer Umtriebe »von beklemmender Aktualität«. Dass über den Angeklagten im Detmolder Fall – anders als im Fall Gröning – nur wenig bekannt sei, erklärt Heubner so: »Es scheint die Beschreibung einer typischen Lebenssituation zu sein: Viele wussten etwas, aber keiner fragte nach.«

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