01.07.2008

derwesten.de
  Dortmunder Staatsanwalt will Kriegsverbrechen in Frankreich aufklären
Joachim Rogge
 
 

Paris. Ihr jüngstes Opfer war erst drei Monate alt. Im August 1944 töteten deutsche Soldaten 124 Einwohner des französischen Dorfs Maillé. Nun will ein Deutscher dafür sorgen, dass die Tat nicht ungesühnt bleibt: Der Dortmunder Staatsanwalt Ulrich Maas sucht nach den schuldigen Kriegsverbrechern.

Ein vergessenes Kriegsverbrechen mitten in Frankreich. Ein Dorf wie viele andere, ohne touristische Hingucker, mit bunten Kinderschaukeln in den Gärten und blühenden Feldern ringsum. 

Hier bleibt man nicht, hier fährt man durch. Die Handvoll Straßen zwischen Kirche, Rathaus und Bahnhof an der Bahnstrecke zwischen Paris und Bordeaux sind schnell erkundet. Und vielleicht hat die Gesichtslosigkeit von Maillé in der Touraine mit dazu geführt, dass selbst die Geschichte diesen Ort vergessen hatte.

Schmerz bis heute

Mit ihrem Kummer waren die Menschen von Maillé jahrzehntelang allein geblieben. Jedes Jahr, am 25. August, wenn Paris den Tag seiner Befreiung von deutscher Besatzung ausgelassen feiert, kommt der Schmerz in Maillé wieder hoch, fließen die Tränen. Ausgerechnet an diesem Tag, als die Befreiung schon zum Greifen nah schien, hörte das alte Maillé auf zu existieren. Morgens um 9 im August 1944 umstellten deutsche Soldaten das Dorf mit seinen gut 600 Einwohnern, durchkämmten anschließend jedes Haus, jeden Keller, jeden Garten, ermordeten Männer, Frauen, Kinder. Das Jüngste war drei Monate. 124 Menschen starben bei diesem Massaker, das bis in die Mittagsstunden dauerte. Anschließend feuerte die Artillerie noch bis in den Abend Granaten auf die 60 Häuser von Maillé.

Ganze Familien wurden an diesem Tag ausgelöscht. Ihre Namen, ihr Alter liest man heute auf dem großen Gedenkstein, der den Friedhof prägt. Jetzt, knapp 64 Jahre danach, wird die Vergangenheit wieder lebendig, taucht Maillé aus dem Schatten des Vergessens auf. Der Dortmunder Staatsanwalt Ulrich Maas, der die NRW-Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen leitet, wird Mitte Juli, zusammen mit zwei Beamten des Stuttgarter Landeskriminalamts, im Dorf erwartet. Das Kriegsverbrechen von Maillé, in Frankreich längst zu den Akten gelegt, soll nicht ungesühnt bleiben, auch wenn die Hoffnung nach so vielen Jahrzehnten naturgemäß gering ist, noch Schuldige für ihre Tat sühnen zu lassen.

Dünne Aktenlage

Die Aktenlage ist dünn. Kein Historiker, kein Staatsanwalt hat sich über Jahrzehnte groß für Maillé interessiert, das in der traurigen Liste der französischen „Märtyrer-Dörfer” gleich hinter Oradour-sur-Glane stehen müsste. In Oradour wütete die SS. Der ganze zerstörte Ort ist bis heute ein viel besuchtes Mahnmal. Maillé hingegen begrub seine Toten, baute wieder auf, lebte still mit seinem Schmerz, für den sich auch im eigenen Land so recht niemand interessierte. Erst, als ein junger Historiker Ende der 90er Jahre beginnt, Maillés Tragödie auszugraben, kommen die Dinge ins Rollen. Im Dorf steht seit zwei Jahren ein „Haus der Erinnerung”. Und bei einem Maillé-Vortrag in Stuttgart sehen zwei anwesende deutsche Kommissare Ermittlungsbedarf.

Welche Einheit für das Massaker von Maillé verantwortlich war, ist bis heute unbekannt. Vor drei Jahren hat Maas als zuständiger Behördenleiter dieses Verfahren gegen Unbekannt eröffnet, hat inzwischen sogar in Londoner Militärarchiven recherchieren lassen, um Täterspuren zu finden. Und in Maillé, aber auch im nahen Tours oder in Paris haben Gendarmen in der Zwischenzeit in einer Art Amtshilfe die Überlebenden von damals befragt, haben nach Uniformfarben, nach Dienstgraden gefragt. Die 58 Zeitzeugen, die damals Kinder waren, hatten naturgemäß Mühe, auf solche Fragen zu antworten. Einem Racheakt, so viel zumindest scheint sicher, war Maillé an diesem heißen Augustmorgen wohl zum Opfer gefallen. Die Resistance war stark in dieser Gegend, hatte die wichtige Eisenbahnlinie mehrfach attackiert und deutsche Truppen angegriffen. Zwei Zettel mit zynischem Text fanden sich nach dem Blutbad. „So bestraft man Terroristen und ihre Helfer”, war in orthographisch fehlerhaftem Französisch darauf zu lesen.

Zufallsfund

Erst 1995, als sich Archive öffneten, fand sich eher zufällig das Urteil des Militärgerichts von Bordeaux, das 1953 einen deutschen Leutnant in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte. Gefunden wurde der Mann nie. Auf späte Bestrafung der Schuldigen setzt, nach 64 Jahren, niemand in Maillé. Und fast noch wichtiger als Antworten auf die Frage nach dem Warum, dem Wieso ist für Bürgermeister Bertrand Eliaume der Symbolgehalt dieses Besuches: ein deutscher Staatsanwalt mitten in Frankreich an einem Ort furchtbaren deutschen Wütens.

 

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