18. Dezember 2007,

nzz.ch
  Ein ganz gewöhnliches Leben?
Ein Leipziger Urteil zugunsten der Kunstfreiheit und ein Kläger unter Verdacht
Joachim Güntner
 
 

«Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.» Es war kurz nach zehn Uhr am gestrigen Vormittag, als die Richterin im Sitzungssaal 107 des Landgerichts Leipzig ihr Urteil sprach. Erich S. ist mit dem Versuch gescheitert, die Memoiren seiner früheren Geliebten Lisl Urban aus dem Verkehr zu ziehen. Von fern wirkt der Fall so wenig des Aufhebens wert wie das strittige Buch, das im Titel «Ein ganz gewöhnliches Leben» zu erzählen verspricht. Der Dingsda-Verlag, wo die auf drei Bände angelegte Autobiografie von Lisl Urban erscheint, ist klein, und die Autorin, die zu DDR-Zeiten als Kunstlehrerin im Internat Wickersdorf unterrichtete, hat zwar unter ihren ehemaligen Schülern viele Fans (darunter den ebenfalls beklagten Lektor des Dingsda-Verlages), doch in der Literatur ist sie eine Unbekannte.

Erster Fall nach «Esra»
Gleichwohl täuscht der Eindruck, man habe es hier bloss mit einer Marginalie der Literaturgeschichte zu tun. Die jüngsten Diskussionen um die Kunstfreiheit wie auch manche zeithistorische Debatte klingen im Streit um Lisl Urbans Buch erneut an. Zwei Monate ist es her, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht das Verbot von Maxim Billers Roman «Esra» in letzter Instanz bestätigt hat. Kritiker malten daraufhin den Teufel einer verschärften Zensur an die Wand. Die Behandlung von Frau Urbans Lebensgeschichte durch das Landgericht Leipzig kann als erste Probe auf diese Befürchtungen genommen werden. Zu unserer Beruhigung lautet das Ergebnis: Justitia bleibt bei ihrem alten Kurs, den Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht von Fall zu Fall mit Augenmass auszubalancieren.

Erich S. wehrt sich dagegen, dass Lisl Urban ihrer beider Liaison den Anstrich einer auch von ihm mit Leidenschaft und Ernst erfüllten Liebe gibt. Er findet dadurch die Beziehung zu seinen späteren Ehefrauen herabgesetzt. «Viele Bänke sind an den Strassen zu Prags Vororten hin, viele Bänke – und wir nutzen jede, um uns zu küssen», schreibt die Autorin über den ersten gemeinsamen Abend, den sie, siebenundzwanzig Jahre alt, «Tippmamsell» bei der Gestapo, eine gescheiterte Ehe im Rücken und liebeshungrig wie die «Hasen» «am Feldrain», mit dem schmucken Hauptmann verbringt, damals, im schwülwarmen Juni des Kriegsjahr 1942. Erich S., der im Buch stets verfremdend Eike genannt wird, kann eine solche Darstellung nicht gelten lassen. Sie verletze ihn, heisst es in der Klageschrift, «da er sich bis heute, aufgrund seiner Erziehung, selbst mit seiner Ehefrau, nicht zu Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit hinreissen lässt».

Es gibt im Schriftsatz des Klägers mehrere Einwendungen solcher Art, die mit Ehe-Empfindlichkeiten argumentieren. Auch beanstandet Erich S. angeblich falsche Darstellungen des historischen Geschehens. So will er nichts davon wissen, dass er von einem Wirtssohn Essensmarken als Geschenk angenommen oder eine Urkundenfälschung begangen habe, um eine polnische Freundin, seine spätere Frau, aus dem Arbeitslager herauszuholen. Wer seine Klageschrift und parallel dazu das inkriminierte Buch liest, begegnet dem kuriosen Umstand, dass Lisl Urban noch immer von ihrem «Eike» schwärmt, Erich S. aber eben jene Passagen, die ihn als Mann mit Mut und Herz jenseits der militärischen Pflichterfüllung zeigen, als ehrverletzend anprangert. Die Leipziger Richterin kommentierte denn auch gestern, das Buch verbreite über den Kläger weder negative Eigenschaften noch intime Details; vielmehr werde der negative Zug erst durch unangemessene Interpretationen in den Text hineingetragen.

Lisl Urban und Erich S. sind heute 93 Jahre alt. Sie hat eine Tochter von ihm, die er erst nach dem dritten Vaterschaftstest anerkannte, vorher aber ein halbes Jahrhundert lang als «Kuckucksei» ansah, das Lisl ihm nur unterschieben wollte, um ihn zu erpressen und zur Heirat zu bewegen. Von der Mutter seiner Tochter, der Geliebten aus Prager Tagen, spricht der Mann, der so viel auf seine Ehre hält, in grob ehrverletzender Weise. Man muss in diesen Abgrund des Erich S., soweit Familiäres betroffen ist, nicht schauen. Aber da gähnt noch ein anderes Ungeheuer. Erich S. war in der SS, und zwar, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, wohl schon seit 1933 oder 1934. Er hat die Zugehörigkeit in der ersten Klageschrift gegen Lisl Urban und ihren Verlag zunächst bestritten, damit jedoch – denn im Buch kommt die SS explizit gar nicht vor – schlafende Hunde geweckt. Im Zuge seiner «Richtigstellung» historischer Fakten hat er in seltsamem Stolz einbekannt, als Bataillonsführer die «äussere Absperrung» des Warschauer Ghettos «gewährleistet» zu haben.

Ungeklärte Rollen
Durch den Rechtsstreit mit Erich S. ist Joachim Jahns, einst Geschichtslehrer, heute Verleger des Dingsda-Verlags, zum Rechercheur geworden. Er hat Fotos gefunden, die nach seinem Urteil nahelegen, in Erich S. einen der Liquidatoren des Warschauer Ghettos zu sehen. Zur Debatte steht auch die Rolle von Erich S. als Kompanieführer im berüchtigten Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101. Die Exzesse dieser Einheit im Distrikt Lublin, wohin 1943 auch Erich S. versetzt war, hat der Holocaust-Forscher Christopher Browning festgehalten. Bei Browning findet sich nichts zu Erich S., und auch dem Simon-Wiesenthal-Center galt er bis vor kurzem eher als Wehrkraftzersetzer denn als möglicher Kriegsverbrecher. Im Internet, das seinen vollen Namen kennt, hätte man zu Erich S. noch vor einem Jahr nichts Ehrenrühriges gefunden. Mittlerweile verweisen zig Websites auf den «SS-Mann», der sich beim Versuch, ein Buch verbieten zu lassen, «selbst outete». Noch bevor gestern das Leipziger Urteil erging, hatte Erich S. den Kampf um sein Lebensbild bereits verloren.

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