Dienstag, 18. Dezember 2007

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  Was tat Erich S. im Warschauer Getto?
von Thorsten Fuchs
 
 

Ein 93-Jähriger klagt gegen die Autobiografie einer früheren Geliebten. Er will ihr Buch verbieten lassen – und provoziert mit seiner Anzeige neue Fragen: Welche Rolle hatte er beim Aufstand in Warschau?

Ein warmer Sommerabend im Juni 1942, die Show ist gerade zu Ende, Brigitte Horney, der Ufa-Star, sitzt noch auf den Stufen der Bühnentreppe, da begegnen sie einander zum ersten Mal, die Sekretärin und der Hauptmann. Es sind unruhige Zeiten, sie sehnt sich nach Liebe, und er gefällt ihr. Sie verbringen die Nacht miteinander.

Das ist der Beginn der Geschichte, die jetzt, 65 Jahre später, zu einem Streit vor dem Landgericht Leipzig führt, zur Frage, ob ein Buch verboten wird – und nach Langenhagen, zu einem alten Mann, der um seine Ehre kämpft und dabei Entsetzliches preisgibt.

Jenen Prager Sommerabend hat eine Dame namens Lisl Urban in ihrer Autobiografie beschrieben. Sie ist die Sekretärin, die nach dem Krieg Kunsterzieherin in Thüringen wurde und heute 93 Jahre alt ist. „Ein ganz gewöhnliches Leben“ hat sie den Band genannt, in dem sie das Schicksal einer Sudetendeutschen beschreibt, von der Geburt in Gablonz über eine scheiternde Ehe und ihre Zeit in Prag bis zur Begegnung mit dem Hauptmann, dem sie in dem Buch den Namen „Eike“ gibt.

Es sind schwärmerische Passagen über einen „schlanken, gut gebauten, faltenlosen“ Mann und Träger des „Eisernen Kreuzes“, der, wie sie schreibt, in Prag seine Erfahrungen im Partisanenkampf an junge Offiziere weitergeben sollte. Von ihm bekommt sie im Frühjahr 1943 eine Tochter. Und in diesem „Eike“ hat sich nun jemand wiedererkannt: Erich S. aus Langenhagen.

Erich S. war früher Polizist, seit einigen Tagen ist auch er 93 Jahre alt, und seine Stimme ist gerade von einer schweren Bronchitis – „tödlich“ nennt Erich S. sie – geschwächt. Dennoch spricht er mit großem Zorn, wenn er die Romanze mit Lisl Urban verächtlich einen „One-Night-Stand“ nennt, „mehr ist das nicht gewesen“. So zornig ist er, dass er trotz der verklärenden Passagen Anzeige erstattet hat gegen Lisl Urban und den Leipziger Dingsda-Verlag, in dem ihr Buch erscheint. In seinen Persönlichkeitsrechten und seiner Intimsphäre fühle er sich „gravierend verletzt“, und dazu listet er auf neun Seiten Fehler auf, die seiner früheren Geliebten unterlaufen seien.

So habe er zum Beispiel sein „Eisernes Kreuz“ nicht für den Partisanenkampf erhalten, sondern für einen Fronteinsatz seiner Polizeikompanie 1942 mit Maschinengewehren, was er sein „Spezialfach über Jahre bei der Reichswehr“ nennt. Auch sei er nicht Mitglied der „Schutzstaffel des Führers“ gewesen, und dass er mit seiner späteren Freundin und Frau, einer Polin, eine Abtreibung erwogen habe, stimme ebenfalls nicht: „Dies einem damaligen Hauptmann der Schutzpolizei anzuhängen, ist eine so verwerfliche Tat, dass auch eine 92-Jährige eine angemessene Sanktion verdient“, erklärt Erich S.

Auch gegen den Eindruck, er könne mit Lisl Urban verheiratet gewesen sein, wehrt er sich drastisch: „Männer genießen ‚Flittchen‘, aber heiraten sie nicht.“ Doch was den Dingsda-Verleger Joachim Jahns und auch Historiker außerdem aufmerken ließen, sind die Sätze von Erich S. über seine weiteren Stationen im Krieg – und seine Rolle beim Aufstand im Warschauer Getto. „Mein Bataillon hatte die äußere Absperrung zu gewährleisten und später den Aufstand mit 400 deutschen Deserteuren zu bewältigen“, schreibt S.

Und was heißt das? Hat Jahns tatsächlich „einen der letzten noch lebenden Liquidierer des Warschauer Gettos“ identifiziert, wie er meint? Für Wolfgang Kopitzsch, den Leiter der Landespolizeischule Hamburg, ist Erich S. kein Unbekannter. Kopitzsch ist Autor einer Untersuchung über das Polizeireservebataillon 101, jene Einheit, die an zahlreichen Aktionen gegen Juden beteiligt war. Laut Kopitzschs Unterlagen war S. von Anfang bis Ende 1943 als Hauptmann der Schutzpolizei Führer der ersten Kompanie und damit automatisch stellvertretender Bataillonskommandeur. „Als Kompanieführer am Warschauer Getto muss er an den Deportationen nach Treblinka beteiligt gewesen sein“, erklärt Kopitzsch.

Wegen der „Aktion Erntefest“, bei der im November 1943 in Majdanek 18.000 Juden ermordet wurden, wurde nach dem Krieg in Hamburg auch gegen S. als Beschuldigten ermittelt. Das Verfahren sei jedoch mangels Beweisen eingestellt worden. Einen neuen Hinweis gebe es, dass Erich S. schon 1933, also sehr früh, Mitglied der SS wurde. Laut dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen hatte Erich S. die SS-Nr. 160812 – die Nummern wurden chronologisch vergeben und lassen deshalb auf das Eintrittsdatum schließen.

Das ist die Geschichte, wie die anderen sie über Erich S. erzählen. Erich S. ist ein wacher, ein offener Mensch, und auch er will erzählen, nur ist es eine andere Geschichte. Er stamme aus einer SPD-Familie, erklärt er, er selbst sei nie Mitglied der NSDAP gewesen und bis auf „die unvermeidbare Übernahme“ in die Waffen-SS auch bei keiner anderen Organisation. Er habe einen Cousin gleichen Namens, „vielleicht bin ich mit dem verwechselt worden“.

Schon bei der Pogromnacht 1938 habe er sich den Befehlen zur Judenverfolgung widersetzt. Im Frühjahr 1943 sei er wegen seiner Beziehung mit einer Polin, seiner späteren Frau, verurteilt worden, und zwar, da der SS-Obersturmführer „Wertesinn für ehrenhaftes Handeln“ besessen habe, zu „Frontbewährung“ und späterer Versetzung zur Waffen-SS. „Ich war nie an Judenverfolgung beteiligt“, sagt er energisch.

Und was war nun seine Rolle im Warschauer Getto? „Ich habe mich geweigert, einen Häuserblock niederzubrennen.“ Der Aufstand? „Den haben wir niedergeschlagen, ja.“ Die Judenverfolgungen mit dem Polizeibataillon 101? „Ich habe nicht dazugehört.“ Ab März 1943 sei er im Partisanenkampf gewesen, ein Sonderauftrag. Erich S. wird lauter, „ich will nicht mehr reden“, sagt er.

Und was war in Majdanek? „Ich war drei Tage abwesend. Meine Kameraden haben das nur aus Kilometerdistanz mitbekommen.“ Seine Aufgabe bei der „Galizischen Grenadierdivision“ der Waffen-SS, die er in seiner Anzeige selbst erwähnt? Einer Einheit, die unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung an Aktionen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt war? Ja, sagt er, er sei schließlich mit einem Auftrag „nur zum Totschießen herumgeschickt worden“. Aber da habe er sich schließlich geweigert, „schwachköpfige Generäle“ habe er erlebt, und was das ganze Fragen überhaupt solle. „Wollen Sie mich entnazifizieren?“

Dann beendet Erich S. das Gespräch. Er habe genug geredet, meint er. Es fing ja nur an mit jenem Sommerabend in Prag, dem Ärger über seine ehemalige Geliebte, der Mutter seiner unehelichen Tochter, und dann ist er auf ganz etwas anderes gekommen, ganz so, als sei alles das, was dann kam, längst noch nicht erledigt.

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