28. Dezember 2012, 15:56 Uhr spiegel.de
SS-Dokument belastet früheren Auschwitz-Wachmann
Von Benjamin Schulz

Die Staatsanwaltschaft Weiden ermittelt gegen Johann Breyer - der frühere SS-Mann soll bei der Ermordung Hunderttausender Juden im KZ Auschwitz-Birkenau geholfen haben. Der 87-Jährige bestreitet dies, aber nun ist ein Dokument aufgetaucht, das seine Aussage zu widerlegen scheint.

Johann Breyer hatte ein ganz spezielles Anliegen. Er wollte vom Fürsorgeoffizier der Waffen-SS in der Slowakei Geld für seine Eltern, die ohne ihren Sohn auf dem heimischen Bauernhof überfordert waren. "Er gab an, dass seine Eltern bereits alt und kränklich sind, so dass sie bei der Bearbeitung der Landwirtschaft vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen sind", heißt es auf Antragsformular mit der "Grundlisten-Nr. 1027/1". Die SS fand Breyers Forderung berechtigt - und sprach ihm monatlich 300 slowakische Kronen zu.

Breyers Antrag auf Angehörigenunterhalt könnte nun - fast 68 Jahre später - zu einem entscheidenden Puzzlestück bei Ermittlungen gegen den früheren KZ-Wachmann werden. Die Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz prüft eine Anklage gegen den inzwischen 87-Jährigen, der in den USA lebt. Er soll geholfen haben, in Auschwitz mindestens 344.000 Juden zu ermorden.

Für eine mögliche Anklage ist die Frage entscheidend, wo genau in Auschwitz Breyer seinen Dienst als SS-Wachmann versah. Er sagt, er habe im Lager Auschwitz I als Wache gearbeitet. Dort waren vor allem Gefangene, die als Sklavenarbeiter eingesperrt waren; dort machte der Arzt Josef Mengele seine menschenverachtenden Experimente an Gefangenen. Im Lager Auschwitz II (Birkenau), dessen Insassen systematisch getötet wurden, will Breyer dagegen nie gearbeitet haben.

Und genau das scheint das nun öffentlich gewordene Dokument zu widerlegen. Denn unten links auf der Seite ist vermerkt, wer über die Entscheidung benachrichtigt wurde: Breyers Eltern und der 3. SS Totenkopf-Sturmbann - im Lager Auschwitz II: "Mttlg. an Eltern und Einheit-3.SS T-Stuba.Ausschwitz [sic!] 2"

Persönlich wegen Angehörigenunterhalt vorstellig geworden

Breyer hat stets abgestritten, an der Vernichtung der Juden beteiligt gewesen zu sein. "Ich habe niemanden getötet, vergewaltigt oder nur ein Haar gekrümmt", sagte er der Nachrichtenagentur Associated Press. Er sei sich der Vorgänge in dem Lager bewusst gewesen, habe sie aber nie persönlich gesehen. "Wir konnten nur das Äußere sehen, die Tore." Zu dem Antrag auf Angehörigenunterhalt wollte sich Breyer nicht äußern; ebenso wenig sein Anwalt Dennis Boyle.

Für Auschwitz-Überlebende und Angehörige Ermordeter hat das Dokument hohe Bedeutung. "Meines Erachtens besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass Breyer in Birkenau Wachmann war", sagt Rechtsanwalt Thomas Walther. Er vertritt acht Nebenkläger in dem Verfahren - eine Angehörige eines Nazi-Opfers sowie sieben Auschwitz-Überlebende, zwei aus den USA und fünf aus Ungarn.

Auf dem Dokument, datiert auf den 17. Januar 1945, ist vermerkt, dass Breyer am Vortag in Pressburg - heute Bratislava - persönlich vorstellig geworden sei, um sein Anliegen vorzutragen. Am 27. Januar wurde das KZ Auschwitz befreit. "Wenn ein SS-Mann der Totenkopfverbände Anfang 1945 Heimaturlaub bekam, mussten besondere Gründe vorliegen, das bekamen nur besonders tüchtige Leute", sagt Walther.

Breyer, Jahrgang 1925, Sohn eines Slowaken und einer Amerikanerin, kam aus Neuwalddorf (heute Nová Lesná) in der Slowakei. Seine Familie gehörte der Gruppe der Karpatendeutschen an. 1942 verstärkte die SS ihre Bemühungen, sie zu rekrutieren - und in dem Jahr trat Breyer als 17-Jähriger in die Organisation ein, im Jahr darauf trat er seinen Dienst an. Diesen versah er nach eigenen Angaben erst im KZ Buchenwald, dann im KZ Auschwitz. Dort soll er spätestens im Dezember 1943 seinen Dienst begonnen haben. Breyer behauptet, er sei im August 1944 desertiert und nie mehr nach Auschwitz zurückgekehrt.

Flucht in die USA

Allerdings scheint jedes Dokument, das neu auftaucht, Breyers Glaubwürdigkeit zu untergraben. Bereits im September weckte ein Dokument Zweifel an der Fahnenflucht-Geschichte. Der Unterlage zufolge befand sich Breyer noch am 29. Dezember bei einer SS-Totenkopfdivision in Auschwitz. Und das nun aufgetauchte Dokument belegt offenbar, dass er noch 1945 in Auschwitz-Birkenau stationiert war. Demnach kann es ihm kaum entgangen sein, dass ab dem 15. Mai 1944 Züge mit ungarischen Juden in das Vernichtungslager rollten, 8000 bis 15.000 Menschen am Tag, vom 15. Mai bis zum 9. Juli insgesamt 434.000 Menschen.

Breyer gab sich nach Kriegsende als Flüchtling aus, ging 1952 in die USA und blieb dort. Er hat die US-Staatsbürgerschaft, wohnt mit seiner Frau Shirley zurückgezogen in einem dreistöckigen Reihenhaus im Nordosten Philadelphias.

Jahrelang versuchten die US-Behörden, ihm die Staatsbürgerschaft zu nehmen und ihn auszuweisen. 2003 endete das Verfahren: Breyer dürfe bleiben, entschied ein Gericht. Es begründete die Entscheidung vor allem damit, dass er der SS als Minderjähriger beigetreten sei und deshalb nicht juristisch für seine Mitgliedschaft zur Verantwortung gezogen werden könne. In dem Prozess zogen die US-Behörden auch die Dokumente heran, die nun für ein mögliches Verfahren in Deutschland wichtig werden könnten - unter anderem den SS-Antrag auf Angehörigenunterhalt.

"Für die Nebenkläger ist das grauenvoll"

Für Nebenklage-Anwalt Walther ist eine Anklage gegen Breyer zwingend. Nur so könne der 87-Jährige an Deutschland ausgeliefert werden. Bislang will sich die Staatsanwaltschaft Weiden allerdings nicht zu einem möglichen Termin äußern, an dem über eine Anklageerhebung entschieden wird.

Anwalt Walther hat dafür kein Verständnis. "Die Staatsanwaltschaft Weiden handelt nicht, es ist eine unendliche Verzögerungsgeschichte", sagt er. "Für die Nebenkläger ist das grauenvoll." Die Staatsanwaltschaft wolle seine Mandanten als Zeugen vernehmen, obwohl diese bereits erklärt hätten, sich nicht äußern zu wollen und ohnehin nichts zur Aufklärung beitragen zu können. "Die haben einen Herrn Johann Breyer nie kennengelernt und können sich auch an kein Gesicht von vor 70 Jahren erinnern."

Gerd Schäfer, Sprecher der Weidener Staatsanwaltschaft, verteidigt die Ermittlungen. Bei dem nun öffentlich gewordenen Dokument müsse man die Frage klären, ob man in einer Hauptverhandlung Zweifel an der Echtheit entkräften könne. Zudem sei es in Mordverfahren üblich, Zeugen der damaligen Geschehnisse zu befragen - selbst, wenn nur die Erkenntnis gewonnen werde, dass die Personen zur Sache nichts sagen könnten. "Wenn wir es nicht für notwendig hielten, würden wir es nicht machen", sagt Schäfer.

"Gegen die Vernehmung der Nebenkläger wehre ich mich seit Monaten, das sind Pseudo-Ermittlungen", sagt dagegen Nebenklage-Anwalt Walther. Er bezeichnet die Vorgehensweise der Ermittler als "gesteigerten Zynismus". Die Nebenkläger wollten das Verfahren beschleunigen; stattdessen würden sie zum Instrument der Verzögerung gemacht. "Faktisch", sagt Walther, "macht es den Eindruck, als wolle die Staatsanwaltschaft die Sache aussitzen."

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