19. Dezember 2012, 20:01 Uhr spiegel.de
Verbrechen der Wehrmacht in Italien 165 Morde pro Tag
Von Hans-Jürgen Schlamp, Rom

Fast vier Jahre lang spürte eine Historikerkommission deutschen Kriegsverbrechen in Italien nach. Nun legte sie ihren Abschlussbericht vor. Die Mörder sind bekannt, die Einheiten, ihre Anführer. Dennoch kam es bis heute nur zu wenigen Verurteilungen.

Roberto Oligeri lebt noch heute in dem kleinen Dorf in der toskanischen Gemeinde Fivizzano, in das am 19. August 1944 die Mörder seiner Familie einmarschierten. Mit vorgehaltener Waffe wurde sein Vater, Wirt eines kleinen Gasthauses, gezwungen, Sturmbannführer Walter Reder und seinen Offizieren ein Essen zu servieren. Während die sich an gebratenem Hähnchen und toskanischem Wein delektierten, durchkämmten die Soldaten der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" das Dorf und die Umgebung. Sie trieben Frauen, Kinder und einige alte Männer zusammen. Am Ende der Mahlzeit gab Reder Order, alle Gefangenen zu töten.

"An diesem Tag wurden in unserem Dorf 160 Menschen umgebracht, darunter meine fünf Geschwister - zwei Brüder und drei Schwestern, der Älteste 19, der Jüngste drei Jahre alt", sagt Roberto Oligeri.

Auch in benachbarten Ortschaften erschlugen, erschossen, verbrannten die Soldaten der Waffen-SS im August 1944 Männer, Frauen und Kinder, Babys. Etwa 560 Menschen starben am 12. August im Bergdorf Sant'Anna di Stazzema.

Mordabsicht nicht beweisbar

Juristisch aufgearbeitet oder gar gesühnt sind die Verbrechen bis heute nicht. Zehn der in Sant'Anna di Stazzema beteiligten SS-Schergen sind zwar in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Aber Deutschland hat sie nie ausgeliefert. Mehr noch: Ein Verfahren gegen sie wurde vor ein paar Wochen von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft niedergeschlagen. Die Mordabsicht sei nicht beweisbar.

Das hat Roberto Oligeri wieder einmal furchtbar aufgeregt. Wie schon so oft, wenn die Justiz die Massenmorde nicht klären konnte - oder nicht wollte. Die Überlebenden der Massaker wurden alleingelassen, mit ihrem Schmerz und ihren Alpträumen, klagt Oligeri, die Täter kehrten nach Hause zurück und bauten sich ein gutbürgerliches, ruhiges Leben auf. Dagegen hat er vor vielen Gerichten, in allen Instanzen - vergebens - geklagt. Er hat Briefe geschrieben, an Politiker und an Zeitungen. "Wir wollen keine Rache", sagt er, "wir wollen Gerechtigkeit."

Bis er die bekommt, dauert es vielleicht noch etwas. Heute gab es erst einmal einen neuen Bericht zu den deutschen Verbrechen in Italien kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Fast vier Jahre lang haben hochmögende Historiker aus beiden Ländern die Quellen zusammengetragen und beschrieben, was wo geschehen ist, nachdem im September 1943 Italiens faschistische Regierung, die bis dahin ein enger Verbündeter der Deutschen war, die Seiten wechselte und einen Waffenstillstand mit den Alliierten schloss.

Durchorganisierte Massaker

Je schwieriger die Lage für die deutschen Truppen in Italien wurde, die nun dort als Besatzungsmacht auftraten, desto brutaler gingen sie vor. Über 600.000 italienische Soldaten wurden als sogenannte Militärinternierte festgesetzt. Der Status der Kriegsgefangenen wurde ihnen verweigert, sie wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland oder auf den Balkan verschleppt. Tausende kamen dabei ums Leben. Mit mörderischer Grausamkeit fielen die Deutschen auch über die italienische Zivilbevölkerung her. Beispielhaft ist die "Vergeltungsaktion" vom 24. März 1944: 335 Menschen wurden in die Ardeatinischen Höhlen, am Rande Roms, verschleppt, erschossen und die Höhlen gesprengt. Die Opfer liegen bis heute dort begraben.

Insgesamt, so hat ein Historiker ausgerechnet, wurden zwischen dem 8. September 1943 und dem 8. Mai 1945 jeden Tag im Durchschnitt 165 Zivilisten, Kriegsgefangene oder Militärinternierte von den deutschen Besatzern ermordet. Dabei sind die Opfer von Auseinandersetzungen der Wehrmacht mit italienischen Soldaten oder Partisanen nicht eingerechnet. "Die Massaker waren insgesamt durchorganisiert und folgten einer straffen militärischen Regie", so der italienische Geschichtsprofessor an der Universität Köln, Carlo Gentile. Die Mörder sind bekannt, die Einheiten, ihre Anführer, die Daten. Dennoch kam es bis heute nur zu ganz wenigen Verurteilungen.

Kein deutsches Urteil

In Italien hatte man das Thema viele Jahre aus politischen Gründen tot geschwiegen. Im Nachkriegskonflikt zwischen Ost und West sollten die Deutschen wieder bewaffnet und aufgerüstet werden, um der Nato nach Kräften beizustehen. Da hätte sich die Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen negativ auf die Gemütslage der italienischen Bevölkerung ausgewirkt. Erst spät, und unter massivem Druck der Öffentlichkeit, kamen in Rom einzelne Verfahren in Gang. Einige wenige deutsche Täter wurden schließlich bestraft. Erich Priebke zum Beispiel, ein beim Massenmord in den Ardeatinischen Höhlen beteiligter SS-Offizier. Er bekam lebenslänglich, lebt aber - heute 99 Jahre alt - im gemütlichen Hausarrest in Rom.

In Deutschland kam es wegen der Kriegsverbrechen in Italien nicht zu einer einzigen rechtskräftigen Verurteilung.

Kommission gegen "Belastungspotential"

Immer dann, wenn sich in Italien Unmut darüber regte, suchte man ein politisches Signal. So wie vor knapp vier Jahren. Da hatte sich Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof erfolgreich dagegen gewehrt, an die Nachkommen von ermordeten Zivilisten Schadenersatz zu zahlen. Staaten seien "immun" gegen derartige zivile Ansprüche, hatten die Anwälte Berlins erfolgreich vorgetragen.

Die Wellen der Empörung in Italien schlugen hoch. Die deutsche Regierung zeigte Verständnis. "Die unaufgeklärte Weltkriegsvergangenheit birgt einiges an Belastungspotential für das deutsch-italienische Verhältnis", erkannte der damalige deutsche Botschafter in Rom, Michael Steiner. Aber Moral und Recht dürfe man eben nicht durcheinanderbringen. Zur Beruhigung berief man eine Historikerkommission, um "einen intensiven, vertrauensvollen Dialog" zu beginnen.

An diesem Mittwoch, bei der Vorlage des Experten-Berichts, oblag es Außenminister Guido Westerwelle, die "schrecklichen Kriegsverbrechen" der Deutschen in Italien "zutiefst" zu bedauern. Auch habe er Verständnis für die Empörung in der italienischen Öffentlichkeit über die Einstellung des Verfahrens gegen die Mörder von Sant'Anna di Stazzema, sagte er.

Und weil man ja nun nicht schon wieder eine Kommission einrichten kann, soll demnächst in Berlin eine Gedenkstätte, voraussichtlich im ehemaligen Zwangsarbeiterlager im Stadtteil Niederschöneweide, an das Schicksal der von den Nazis entführten italienischen Soldaten erinnern. Zusätzlich soll es kleinere Gedenkstätten in Italien geben.

spiegel.de