26.09.2012 - 13:12 Uhr zeit.de
Ein KZ-Helfer entgeht der Sühne
Hellmuth Vensky

Johann B. muss sich kaum Sorgen machen. Der 1925 in der damaligen Tschechoslowakei geborene Sohn eines Deutschen und einer Amerikanerin soll als ehemaliger Wachmann im KZ Auschwitz zwar in Deutschland vor Gericht gestellt werden. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es dazu kommt, ist gering. Denn der juristische Weg bis zu einem Prozess ist lang, und B. ist schon 87 Jahre alt.

Dass B. 67 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des NS-Massenmords an den Juden nicht mit Bestrafung rechnen muss, hat viel mit den Versäumnissen bei der Verfolgung der großen und kleinen Täter zu tun. Und mit institutionellen Mängeln. So gibt es in Deutschland bis heute keine zentrale Anklagebehörde für NS-Verbrechen. In diesem Fall muss die Staatsanwaltschaft der 40.000-Einwohner-Stadt Weiden in der Oberpfalz über eine Anklage entscheiden, weil B. hier zuletzt gelebt hat. Die Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hat zwar Beweismaterial gegen B. zusammengestellt und hält es für ausreichend. Formal prüfen müssen das aber die Weidener Juristen, die mit der schwierigen Materie unerfahren sind.

B., der seit Langem in den USA lebt, gab in amerikanischen Medien zu, im Konzentrationslager Auschwitz gedient zu haben, aber nur als Wachmann am Zaun und nicht im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. "Ich habe niemanden umgebracht, ich habe niemanden vergewaltigt, ich habe nichts Unrechtes getan." Er habe zwar vom Massenmord gewusst, aber ihn nicht mit angesehen: "Wir konnten nur die Außenseite sehen, die Tore."

Die Ermittler der Zentralstelle glauben das nicht. Alle SS-Leute in Auschwitz seien in einem rotierenden System auch in den Gaskammern und an der Rampe eingesetzt worden, an der die Deportierten in Güterwaggons ankamen und "selektiert" wurden. Die Ludwigsburger Behörde empfiehlt der Staatsanwaltschaft in Weiden, Breyer wegen Beteiligung am Mord an mindestens 344.000 Juden anzuklagen.

Die Nazi-Jäger kommen erst jetzt auf die Idee, einfache Wachleute zu verfolgen, weil Gerichte in der Bundesrepublik NS-Helfer lange nur dann verurteilten, wenn ihnen einzelne Taten nachgewiesen werden konnten oder sie als "Exzesstäter" aus eigenem Antrieb besonders grausam gehandelt hatten. Kleine Rädchen im Getriebe kamen oft ohne Strafe davon.

Die Rechtsauffassung, wonach in reinen Vernichtungslagern jeder SS-Wachmann am Massenmord beteiligt war, entwickelte sich erst in den vergangenen Jahren. Im Prozess gegen Iwan (John) Demjanjuk setzte sich die neue Sicht erstmals durch: Das Landgericht München II befand den aus der Ukraine stammenden früheren SS-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor für schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft, ohne dass ihm Einzeltaten nachgewiesen wurden. Das Urteil wurde allerdings nicht rechtkräftig, weil seine Anwälte Berufung einlegten und der 91-Jährige im März starb, bevor darüber entschieden wurde.

Bis die Weidener Staatsanwaltschaft im Fall B. entscheidet, ob sie Anklage erhebt, können Monate vergehen, ließ die Behörde wissen. Danach muss noch das zuständige Landgericht der Stadt prüfen, ob es die Beweise für ausreichend hält, um einen Prozess zu eröffnen – und ob es sich zuständig fühlt. Im Fall Demjanjuk hatte das Münchener Gericht zunächst den Bundesgerichtshof angerufen, weil auch andere Städte als letzter Aufenthaltsort infrage kamen.

Die USA dürften sich über ein Auslieferungsgesuch freuen: Die dortigen Behörden haben jahrelang versucht, B. wegen seiner NS-Vergangenheit auszuweisen. Doch er klagte immer wieder erfolgreich dagegen. 2003 befand ein Gericht, B. könne in den USA bleiben, weil er der SS als Minderjähriger beigetreten und nicht freiwillig geblieben sei.

Den Akten zufolge meldete B. sich 1943 auf eine Rekrutierungskampagne unter slowakischen "Volksdeutschen" hin zur SS. Da war er 17 Jahre alt. Er diente zunächst im KZ Buchenwald und spätestens ab Dezember 1943 in einer Kompanie der Totenkopf-SS in Auschwitz.

Die von der Zentralstelle genannte Zahl von Opfern bezieht sich auf die "Ungarn-Aktion" im Frühjahr 1944. Damals wurden binnen vier Wochen mindestens 340.000 deportierte Juden in die Todeskammern von Auschwitz getrieben. Tatsächlich liegt die Zahl der getöteten Juden in der mutmaßlichen Dienstzeit von B. in Auschwitz wesentlich höher.

Nach dem Krieg siedelt B. 1952 in die amerikanische Heimatstadt seiner Mutter Philadelphia über, wo er bis heute lebt. Er wurde US-Bürger und arbeitete als Werkzeugmacher. In seinen erfolgreichen Beschwerden gegen eine Ausweisung nach Deutschland gab er an, er sei nach einem Heimaturlaub im August 1944 desertiert und nicht mehr nach Auschwitz zurückgekehrt.

Aber auch an dieser Darstellung gibt es Zweifel. Als B. 1951 ein amerikanisches Visum beantragte, überprüften ihn die US-Militärbehörden im besetzten Deutschland. Den Akten von damals zufolge wurde er noch bis zum 29. Dezember 1944 als Mitglied des SS-Bataillons in Auschwitz geführt – vier Monate nach seiner angeblichen Fahnenflucht. Sollte er gelogen haben, könnte das die Basis für ein neuerliches Verfahren zur Aberkennung der US-Staatsbürgerschaft sein.

B. hat angekündigt, sich mit allen rechtlichen Mitteln gegen eine Auslieferung zu wehren. "Ich bin amerikanischer Staatsbürger. Die können mich nicht deportieren", sagte er. Inzwischen gibt er US-Medien keine Interviews mehr.

Schätzungen zufolge gibt es noch mehr als 80 weitere ehemalige KZ-Wachleute oder vergleichbar am Holocaust Beteiligte, die noch am Leben sind und bislang nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Die allermeisten von ihnen werden vermutlich wie Johann B. sterben, ohne sich je für ihre Taten vor Gericht verantwortet zu haben.

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