25. SEPTEMBER 2012 fr-online.de
Mordhelfer in 433.000 Fällen
Von ANDREAS KOPIETZ

Die deutsche Justiz ermittelt nach Informationen dieser Zeitung gegen einen ehemaligen SS-Wachmann. Der in den USA lebende Johann Breyer soll in Auschwitz daran mitgewirkt haben, mehr als 433 000 Juden in die Gaskammern zu treiben.
Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Kriegsverbrechen in Ludwigsburg hat ein Vorermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Wachmann abgeschlossen und an die Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz abgegeben. Die soll jetzt Anklage erheben und einen internationalen Haftbefehl erwirken. Weiden ist zuständig, weil Breyer dort seinen letzten Wohnsitz hatte.

Rotierendes System

Nach Auffassung der Zentralen Stelle hat Breyer wesentlich zu den Massenmorden in Auschwitz beigetragen. Durch seine Tätigkeit beim Absperren der Rampe und beim Wachdienst im Lager Auschwitz-Birkenau förderte er den Ermittlungen zufolge im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen die Vernichtung der Deportierten und leistete damit einen „kausalen Beitrag zu den als Mord zu qualifizierenden Tötungsverbrechen“.

Breyer ist gebürtiger Slowake und wanderte 1952 in die USA aus, wo er die US-Staatsbürgerschaft annahm und dann als Werkzeugmacher arbeitete. Heute lebt er in Philadelphia. Er selbst räumte in den Anhörungen durch das US-Justizministerium – das ihn dem Vernehmen nach sehr gern nach Deutschland ausliefern würde – ein, Wachmann in Auschwitz gewesen zu sein. Jedoch sei er außerhalb stationiert gewesen und habe nichts mit den Verbrechen zu tun gehabt.

Dem gegenüber stehen die Ermittlungen der 48-jährigen Richterin Kirsten Goetze, die mehrere Jahre lang über Breyer und das System Auschwitz Nachforschungen anstellte und Zeugen befragte. Demnach hatte sich Breyer mit 17 Jahren freiwillig zur SS gemeldet und diente spätestens ab Dezember 1943 im KZ Auschwitz II (Birkenau), wo er einer Kompanie des Totenkopfsturmbanns angehörte. Diese Kompanie tat im Frühjahr und Sommer 1944 ihren Dienst an der Rampe in Birkenau.

Allein zwischen dem 19. Mai und dem 22. Juli trafen während der sogenannten Ungarn-Aktion 137 Züge mit mehr als 433 000 Juden ein, von denen mindestens 344 000 sofort von den Angehörigen der Wachmannschaften zu den Gaskammern getrieben wurden. Hinzu kamen zahlreiche weitere Züge aus allen besetzen Ländern Europas, darunter mit deportierten Juden aus dem Reich und aus Berlin. Die Wachmannschafts-Angehörigen waren in einem rotierenden System an der Rampe eingesetzt, um das Entladen der Menschen zu sichern und Widerstand zu unterbinden.

Neue juristische Auffassung

Jahrzehntelang taten sich deutsche Richter schwer mit Kriegsverbrechern. Denn ihnen mussten konkrete Exzess-Taten wie Mord nachgewiesen werden. „Insofern ist der Fall Breyer zu vergleichen mit Demjanjuk“, sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralstelle. Demjanjuk war zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, ohne dass ihm Einzeltaten nachgewiesen wurden.

Die Richter sahen es als erwiesen an, dass jeder SS-Mann und jeder Wachmann als „Teil der Mordmaschinerie“ am Massenmord beteiligt war. Das Argument führen die Ermittler nun auch bei Johann Breyer an, denn Auschwitz-Birkenau war ausschließlich zur Ermordung von Menschen gebaut. Diese Rechtsauffassung setzte sich laut Schrimm in der Zentralstelle erst in den letzten Jahren durch – was der Grund dafür ist, dass der Fall Breyer, der dort über Jahre schlummerte, bevor Kirsten Goetze ihn aufgriff, ein Aktenzeichen aus dem Jahr 2003 hat.

Das neue Denken hätte sich möglicherweise überhaupt nicht durchgesetzt, wenn nicht Kirsten Goetze und Thomas Walther die Fälle Demjanjuk und Breyer ausgegraben und bei den Staatsanwaltschaften Druck gemacht hätten. Thomas Walther, heute Richter im Ruhestand, ermittelte bei der Zentralstelle den Fall Demjanjuk.

Im Fall Breyer vertritt er als Rechtsanwalt eine Frau, die in Auschwitz ihre beiden Geschwister verlor – genau zu der Zeit, als Breyer dort Dienst tat. Die Frau will als Nebenklägerin gegen Breyer auftreten. Walther sucht weitere Nebenkläger und richtete dafür eine E-Mail-Adresse ein unter: [email protected].

Die Staatsanwaltschaft Weiden muss nun entscheiden, ob sie ein Auslieferungsersuchen stellt. „Das kann noch dauern“, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer. „Wir haben keine Erfahrung mit solchen Verfahren und müssen erst schauen, ob die Beweise für eine Verurteilung ausreichen.“

Johann Breyer ist inzwischen 87 Jahre alt. „Es bleibt nicht mehr viel Zeit, die letzten lebenden Nazi-Verbrecher vor Gericht zu bringen“, sagt Thomas Walther. „Ich hoffe, dass die Staatsanwaltschaft Weiden in diesem Fall schnell arbeitet.“

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