Die deutsche Justiz ermittelt gegen einen früheren Wachmann
im Vernichtungslager Auschwitz. Johann B. lebt seit sechzig
Jahren in den USA - nun könnte ihn seine Vergangenheit
einholen.
Johann B. ist ein Mann mit zwei Leben. Wie viele andere
Europäer, die auf der Suche nach dem amerikanischen
Traum waren, wandert auch er nach dem Zweiten Weltkrieg in
die USA aus. Er arbeitet als Werkzeugmacher, gründet
eine Familie, wird US-Staatsbürger. Heute führt
der 87-Jährige ein Rentnerdasein in einem Reihenhaus
in Philadelphia.
Doch nun könnte ihn seine Vergangenheit einholen, denn
im Jahr 1944 war Johann B. Wachmann in Auschwitz.
Nach Recherchen des Tagesspiegels ist Johann B. der Mann,
gegen den derzeit in Deutschland Ermittlungen wegen NS-Verbrechen
laufen. Als die Züge mit den aus ganz Europa deportierten
Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau eintrafen,
soll er auch Dienst an der Rampe gehabt haben. Von dort aus
wurden die meisten Juden sofort in die Gaskammern geschickt
und ermordet. Er habe einen „wesentlichen Tatbeitrag“ zum
Mord an mindestens 344 000 Menschen geleistet, sagen die
Ermittler von der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen in Ludwigsburg, die ihren Bericht vor kurzem abgeschlossen
und der Staatsanwaltschaft im bayerischen Weiden übergeben
haben. Einen Namen nennen sie nicht, doch es gibt keine Zweifel,
dass Johann B. gemeint ist.
Bildergalerie: John Demjanjuk ist tot
Der Fall erinnert an John Demjanjuk, der im Mai 2011 vom
Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager
Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war. Das
Urteil ist allerdings nicht rechtskräftig geworden,
weil der 91-Jährige vor der Revision starb. Beide, John
Demjanjuk und Johann B., waren keine deutschen Staatsbürger.
Demjanjuk kam als Sowjetbürger in der Ukraine zur Welt,
B. wurde in einen slowakischen Dorf geboren. Seine Familie
gehörte allerdings der deutschen Minderheit an. Beide
wurden im Zweiten Weltkrieg Wachmänner in Vernichtungslagern
im Dienste der SS. Nach dem Krieg wanderten sie in die USA
aus und wurden dort von Ermittlern des US-Justizministeriums
aufgespürt. Diese suchten gezielt nach NS-Verbrechern,
die sich durch falsche Angaben die Einreise und die US-Staatsbürgerschaft
gesichert hatten.
Gibt es demnächst noch einen Auschwitz-Prozess?
Aber damit enden die Gemeinsamkeiten. Demjanjuk kam als Soldat
der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft und ließ sich
im Lager für den SS-Wachdienst anwerben. Johann B.
jedoch meldete sich 1942 wie viele sogenannte „Volksdeutsche“ sogar
freiwillig zum Dienst in der Waffen-SS und gehörte
später den Totenkopfverbänden an. Im Konzentrationslager
Buchenwald ließ er sich zum Wachmann ausbilden und
kam vermutlich im November 1943 nach Auschwitz. Anders
als Demjanjuk, der bis zum letzten Prozesstag leugnete,
je in Sobibor gewesen zu sein, gab Johann B. seine Tätigkeit
als Wachmann in Auschwitz bei Vernehmungen in den USA zu.
Er habe aber keine Gefangenen getötet oder gefoltert,
betonte er.
Wenn er jedoch auch Wachmann im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
war – und davon sind die Ermittler überzeugt –,
dann hat er zwangsläufig beim Massenmord an den europäischen
Juden mitgemacht. Denn eine Arbeitsteilung gab es unter den
Wachleuten in Auschwitz nicht, die verschiedenen Dienste
wurden rotierend von allen geleistet, und wenn die Deportationszüge
ankamen, mussten ohnehin alle SS-Männer mithelfen. „Durch
seine Tätigkeit beim Absperren der Rampe, beim Wachdienst
um das Lager und den Dienst auf den Wachtürmen im Lager
Birkenau hat er die Vernichtung der Deportierten im Zusammenwirken
mit anderen SS-Angehörigen gefördert“, betonen
die Ludwigsburger Ermittler.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebte Johann B. einige
Jahre in Bayern, bevor er 1952 in die USA auswanderte. Weil
seine Mutter Amerikanerin war, konnte ihm die US-Staatsbürgerschaft
später nicht entzogen werden, obwohl ihm die Behörden
nachweisen konnten, bei der Einreise und der Einbürgerung
falsche Angaben zu seiner Vergangenheit gemacht zu haben.
Die Ermittlungsakten aus Ludwigsburg liegen nun bei der
Staatsanwaltschaft im kleinen Weiden, weil B. in der Nähe
seinen letzten Wohnsitz in Deutschland gehabt haben soll.
Genau das, nämlich die Zuständigkeit seiner Behörde,
will der leitende Oberstaatsanwalt Schäfer zunächst
prüfen. Das könne mehrere Wochen dauern, kündigte
er bereits an. Danach muss die Staatsanwaltschaft entscheiden,
ob sie ein Auslieferungsersuchen an die USA stellt. Sollte
Anklage erhoben werden und der Fall vor Gericht kommen, würde
es in Deutschland noch einmal einen Auschwitz-Prozess geben. tagesspiegel.de
|