07.07.2012 maerkischeallgemeine.de
Das tägliche Protokoll
Von Wieland Niekisch

Erwin Strittmatter bewarb sich Anfang 1940 bei der Waffen-SS, wurde aber nicht genommen. 1941 trat er nach erfolgreicher Bewerbung seinen Dienst im Polizeibataillon 325 an, das 1942 in das neu aufgestellte Polizeigebirgsjägerregiment 18 eingegliedert wurde, dem Heinrich Himmler 1943 in seiner gleichzeitigen Funktion als Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei wie allen Polizeiregimentern den Zusatz „SS“ verlieh. Im Rang eines Oberwachtmeisters war es seine Aufgabe, das Kriegstagebuch zu führen.

Das Kriegstagebuch seiner Polizeieinheit ist nicht erhalten. Ein Großteil des Archivs der Ordnungspolizei, das 1945 nach Bischoftei-nitz in Westböhmen (heute Tschechien) ausgelagert worden war, konnte noch vor dem Eintreffen der amerikanischen Truppen am

5. Mai vernichtet werden. Die Rede ist von 32 Aktenschränken und 15 000 Fotos. Im Archiv der Ordnungspolizei hatte Strittmatter seinen letzten Dienstposten bis zum Kriegsende.

Polizei-Oberstleutnant Emil Klofanda schrieb 1954 vertraulich an seinen früheren Vorgesetzten, den Generalleutnant der Polizei und SS-Gruppenführer Adolf von Bomhard: „Wären meine Bestände an Befehlen und Tagebüchern, von den höchsten bis zu den niedersten Stellen ... in die Hände des Gegners gefallen, hätte es wahrscheinlich, oder gewiss, noch einer größeren Anzahl von Befehlshabern und Kommandeuren usw. das Leben gekostet, mindestens aber langjähriges, schweres KZ, zumal die

15 000 Fotos vielfach eine beredte Sprache sprachen.“

So konnte die Legende von einer „sauberen Ordnungspolizei“ entstehen, deren Gewaltverbrechen im Zweiten Weltkrieg erst in den beiden letzten Jahrzehnten von der Forschung systematisch erschlossen werden. In Polen, im besetzten Teil der UdSSR, dem Balkan und Griechenland war eine große Zahl der Polizeibataillone u. a. Teil der hinter der Wehrmacht operierenden Einsatzgruppen. Diese bestanden eben nicht nur aus Angehörigen von SS und SD, sondern ebenfalls aus Angehörigen der der

SS-Führung unterstehenden, uniformierten Ordnungspolizei.

Diese Einsatzgruppen hatten vor allem die Aufgabe, in ihren Einsatzgebieten die jüdische Bevölkerung und die politischen Kommissare zu liquidieren. Dies geschah auch nicht selten mit der Begründung der „Banden“- bzw. Partisanenbekämpfung in Form von Vergeltungsmaßnahmen. Auch wenn bei den Kampfhandlungen mit Partisanen von beiden Seiten Grausamkeiten und Härten vorgekommen sind, rechtfertigt dies niemals das grenzenlose Ausmaß an Willkür und Verbrechen gerade in Ost- und Südosteuropa. Die Polizeibataillone und späteren SS-Polizeiregimenter waren innerhalb der Einsatzgruppen oder selbstständig unter dem direkten Befehl der „Höheren SS- und Polizeiführer“ im Einsatz. Diese waren die unmittelbaren, regionalen Stellvertreter von SS-Chef Himmler, der seit Juni 1936 als Chef der gesamten deutschen Polizei diese Schritt für Schritt mit der SS zu einem sogenannten Staatsschutzkorps zu vereinigen suchte.

Das Kriegstagebuch des in Oranienburg aufgestellten Polizeibataillons 310 (ab Juli 1942 III. Bataillon des Polizei-Regiments 15) ist für die Zeit von 1940 bis 1942 erhalten geblieben. Es ermöglicht einen unverstellten Einblick in den Kriegsalltag deutscher Polizisten im Ausland. Der heutige Kriminalkommissar Christoph Koppe hat über dieses Bataillon, das in Polen und in der Sowjetunion stationiert war, 2009 an der Fachhochschule der Polizei in Oranienburg eine lesenswerte Diplomarbeit geschrieben. Der bekannte Polizeihistoriker Stefan Klemp hat dem Bataillon in seinem Buch „Nicht ermittelt“ ein Kapitel gewidmet. Seit 2010 wird an der Fachhochschule des Landes Brandenburg weiter, insbesondere über Einheiten aus Oranienburg, geforscht, wobei die Polizeianwärter mittels Lehre und Forschung einbezogen werden.

Neben vielen banalen Vorgängen sind täglich in nüchternem Bürokraten-Deutsch auch die äußerst grausamen Einsätze mit der Schreibmaschine protokolliert worden. Die Formblätter geben drei Spalten vor. Links wurde das Datum, der Ort und die Art der Unterkunft eingetragen. In der Mittelspalte findet sich der meiste Text unter der Überschrift „Darstellung der Ereignisse“. Hier ein Auszug (Kp. steht als Abkürzung für Kompanie):

„30. 5. 1941. Tomaschow. 2. Kp.

3 Juden und eine Jüdin wurden ohne Ausweis angetroffen und zwangsgestellt. Zu einer Exekution in Petrikau stellte die Kp. von 02.00-09.00 Uhr ein Sonderkommando ... Petrikau. 3. Kp. In den frühen Morgenstunden führte ein Kommando der Kp., verstärkt durch ein Sonderkommando der 2. Kp. (s. oben) die Exekution von 78 Verbrechern (darunter 1 Frau) durch. Die Exekution war als Sühnemaßnahme für die Ermordung des SS.-Untersturmführers Dittmann erfolgt.

24. 2. 41. Tschenstochau. 03.25 Uhr wird die angesetzte Einsatzbereitschaft wieder aufgehoben, und tritt ab 22.00 Uhr neu in Kraft. Um 17.00 Uhr hören die Einheiten im Gemeinschaftsempfang die Führerrede ...

20. 11. 1941. Lemberg. 3. Kp. ... Die Kompanie wurde heute zwecks Exekution von 139 russ. Kommunisten und Kommissaren in Rawa-Ruska eingesetzt. Die Aktion begann an Ort und Stelle 08.30 Uhr und war gegen 11.00 Uhr beendet. Es wurde anfangs durch Salve executiert, später wurde Einzelexecution mittels MP. vorgenommen.

24.12.1941. Lemberg. – Stab – Heute wurde von den Einheiten des Bataillons in den festlich hergerichteten Wohlfahrtsräumen das Julfest feierlich begangen. Neben den Ansprachen der Kompanie-Chefs wechselten der Würde des Tages entsprechende Vorträge und Deklamationen. Trotz des Ernstes der Zeit war es möglich gewesen, jedem Angehörigen des Bataillons ein Geschenk zu überreichen, das mit dazu beitrug, die Feststimmung zu heben und den Männern Freude zu bereiten.

22. September 1942. O. U. Kobryn. Das Batl. erhält den Befehl, mit den unterstellten Einheiten und dem zugeteilten Gend.- (Gendarmerie) Zug 16 (mot) die nördlich und nordostwärts von Mukray gelegenen Orte Borki, Zablosie und Borysowka, die als Bandenstützpunkte festgestellt worden sind, zu vernichten.

23. September 1942. O. U. Kobryn. Bat.-Gefechtsstand Mukray. Die Aktion beginnt mit der Umstellung der Ortschaften, die in den frühen Morgenstunden beendet ist. Bei Tagesanbruch werden die Einwohner zusammengeholt und vom SD überprüft. Nach Ausscheiden von einwandfrei zuverlässigen Familien werden befehlsmäßig in Borysowka 169 Männer, Frauen und Kinder, in Borki 705 und in Zabloni 289 Männer, Frauen und Kinder erschossen. Es beginnt dann die Sicherstellung des Viehs, des Geräts und des Getreides. 9. Oktober 1942. O.U. Kobryn. ... Zur Vergeltung für den am 4. Oktober 1942 erfolgten Ueberfall werden von der 10. und 11. Kompanie in den Orten Antonowo, Zielone Budy, Lasowiec Soboty, Lasowiec Niny, Lasowice Gora und Korostawka die Familien ermittelt, von denen Angehörige bei den Banden sind. Die Familien werden erschossen; die Gehöfte abgebrannt. Insgesamt werden 17 Gehöfte vernichtet und 19 Männer, 22 Frauen und 41 Kinder erschossen.

21. Oktober 1942. O. U. Kobryn. ... Zwei mit den Banditen in Verbindung stehende Familien in Lachczice werden erschossen. Die Gehöfte und das Vieh werden sichergestellt. 8 Bandenhelfer, 1 Bandit und 5 Juden werden erschossen. Die 10. Kompanie erschießt in einem Lager an der Straße Brest-Kobryn 461 Juden.“

In der rechten Spalte des Kriegstagebuchs wurde die Wetterlage stichwortartig charakterisiert – etwa „trübe, windig, geringer Frost“ oder „sonnig warm“.

Heinrich Himmler befahl am 27. Oktober 1942 die Vernichtung des Ghettos in Pinsk. Am 29. Oktober nahmen u. a. Teile die 10. Kompanie des III. Polizeibataillons an der Vertreibung und Ermordung von mindestens 15 000 Juden aus dem Ghetto in Pinsk teil. Das Polizeibataillon III nahm die Erschießungen im Ghetto vor.

Die Gesamtzahl der Opfer des Polizeibataillons 310 wird mit

6769 Menschen beziffert. Direkt auf das Konto aller Polizeibataillone gehen etwa 520 000 Opfer. Unter der indirekten oder direkten Mitwirkung der Ordnungspolizei sind schätzungsweise zwischen 1,5 und zwei Millionen Menschen bei Einzelaktionen und Massenerschießungen ermordet worden.

Sicher haben sich auch in allen Einheiten Polizisten dem massenhaften Morden entzogen oder verweigert. Mehrheitlich folgte man jedoch der Ideologie, dem Gruppenzwang oder stand unter Alkohol.

Auch wenn man Erwin Strittmatter konkret keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachweisen kann, hätte er doch mit seinem Wissen über die Kriegstagebücher seiner und anderer Einheiten und der Kenntnis über das umfangreiche, aber vernichtete Archiv der Ordnungspolizei vieles zur Aufklärung beitragen können. Insbesondere was die unmittelbare Verantwortung für das brutale Vorgehen seines Regiments in Slowenien oder bei den Vernichtungs-, Deportations- und Massenerschießungsaktionen vor allem gegen die jüdische Bevölkerung in Griechenland betrifft, die Ralph Klein 2007 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft dargestellt hat.

Dr. Wieland Niekisch ist seit 2010 Leiter des 2006 an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg gegründeten Zentrums für Zeitgeschichte der Polizei des Landes Brandenburg in Oranienburg.

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