27.06.12 welt.de
Ordnungspolizisten übten in Prora den Völkermord
Von Sven Felix Kellerhoff

1940 wurde im Seebad Prora auf Rügen ein Bremer Polizeibataillon für seinen Einsatz in Russland gedrillt. Briefe von Mitgliedern der Einheit belegen mit aller Deutlichkeit ihre Teilhabe am Holocaust.

Eigentlich sollte der Koloss die betongewordene "Volksgemeinschaft" werden. Doch Prora, das riesige Seebad der Nazi-Organisation "Kraft durch Freude" auf Rügen blieb Fragment, wurde nur zu einem kleinen Teil fertig gestellt. Auf eine andere Weise als geplant jedoch stand und steht die riesige Bettenburg, die sanft geschwungen dem Ostseestrand folgt, für die in Wirklichkeit mörderische Ideologie der "Volksgemeinschaft". Denn hier wurden mindestens einmal, wahrscheinlich aber häufiger Täter des Holocaust ausgebildet. Das hat jetzt der Bremer Historiker Karl Schneider herausgefunden.

Seit langem beschäftigt sich der 75-jährige pensionierte Professor für Verwaltungsrecht und ehemalige Polizist mit der Verstrickung von Polizeieinheiten seiner Heimatstadt in den Holocaust. Schon mehrere Bücher hat Schneider dazu vorgelegt. Neu ist, dass die Männer des Bremer Polizei-Reservebataillons 105 in Prora an Infanteriewaffen ausgebildet wurden. Damit waren sie geeignet, das Mordhandwerk hinter der Ostfront auszuüben.

Im Dritten Reich unterstand die gesamte Polizei seit 1936 dem "Reichsführer SS", Heinrich Himmler. Die uniformierte Schutzpolizei firmierte nun – übrigens zusammen mit der Feuerwehr – als Ordnungspolizei, die Kriminalpolizei und der SS-Apparat wurden zu Kriegsbeginn als Reichssicherheitshauptamt zusammengefasst.

Meistens Bürger mittleren Alters

In fast allen größeren deutschen Städten gab es zu diesem Zeitpunkt eine Polizeireserve, meistens Bürger mittleren Alters. Im Zuge der Mobilisierung 1939/40 wurden aus diesen Reservisten spezielle Polizeibataillone aufgestellt, die zum Einsatz als Ordnungskräfte in besetzten Ländern vorgesehen waren.

Das Reserve-Polizeibataillon 105 wurde Ende September 1939 zunächst als "Ergänzungs-Bataillon II" aufgestellt. Die Offiziere und Unteroffiziere, also Kompanie-, Zug- und Gruppenführer waren aktive Polizisten, die Mannschaften dagegen einberufene Reservisten zusammen. Die meisten von ihnen stammten aus Bremen, allerdings einige auch aus Hamburg.

Ernst wurde es für die Männer, die meist zwischen Ende dreißig und Fünfzig waren, am 30. April 1940: Ihr erster Marschbefehl führte sie nach Prora, zur Ausbildung an Infanteriewaffen wie Maschinengewehren. Nach vier Wochen ging es weiter nach Norwegen, das die Wehrmacht im April und Mai besetzt hatte. Da die Kampftruppen nach Frankreich abgezogen werden sollten, mussten andere Männer die Aufgaben der Besatzungsmacht übernehmen.

"Ich habe den besten Posten"

Genau dafür waren die Reserve-Polizeibataillone eigentlich vorgesehen. Nach den Briefen des Bremer Kaufmanns Hermann Gieschen an seine Frau Hanna war die Zeit in Oslo angenehm; es gab weder Kampfhandlungen noch Bedrohungen. Im Februar 1941 kehrte das Bataillon zurück nach Bremen, um dann am 28. Mai 1941 erneut verlegt zu werden, diesmal nach Ostpreußen in die Nähe der Grenze zur damaligen Sowjetrepublik Litauen.

Gieschen erhielt den Auftrag, als Bataillonsfotograf den Einsatz der "105er" zu dokumentieren. Er schrieb nach Hause: "Stelle Dir doch mal vor, ich habe doch augenblicklich den besten Posten im ganzen Bataillon. Ich brauche nichts zu tun, als interessante Motive festzuhalten. Das ist eine Arbeit, die mir obendrein noch Spaß macht." Schon unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 vermerkte Wachtmeister Gieschen: "Der Major sagt, jeder Verdächtige ist sofort zu erschießen. Na, ich bin gespannt."

Am 27. Juni 1941 überschritt Bataillon 105 die Grenze, und schon eine Woche später berichtete der Reservepolizist: "Vorgestern hat die erste Kompanie ein Flintenweib und sechs Heckenschützen erschossen. Ich bin nicht dabei gewesen. Die Biester haben deutsche Soldaten aus dem Hinterhalt erschossen. Sie mussten sich ihr Grab selbst schaufeln." Gieschen war klar, was auf seine Kameraden und ihn wartete: "Mit diesen Elementen wird es noch länger dauern, bis alles ruhig ist. Die Wälder sollen noch voll sitzen."

Juden wurden zu Sklaven

Der damals 39-Jährige hatte sich vorgenommen, wirklichkeitsgetreu zu berichten: "Weißt Du, ich will Dir lieber so ein bisschen die Wahrheit schreiben, wie es ist. Sonst hörst Du was von anderer Seite und bekommst vielleicht ein falsches Bild." Und was die Gewalt gegen angebliche "Heckenschützen" und Juden anging, hielt er sich an seinen Vorsatz. So schrieb er, dass sich seine Kompanie "eine Judenwohnung hergerichtet" habe als Quartier: "Die Juden des Ortes sind Sonntag morgen ganz früh vom Vorkommando geweckt worden, mussten zum größten Teil ihre Häuser und Wohnungen verlassen und für uns frei machen."

Die Polizisten hielten sich die wehrlosen Menschen praktisch als persönliche Sklaven: "Jeden Morgen um sieben Uhr muss das auserwählte Volk antreten und alle Arbeit für uns machen. Sie müssen die Bude ausfegen, Stiefel putzen, Wäsche waschen und plätten, Besorgungen machen, Wasser holen und wegbringen usw. Wir brauchen überhaupt nichts mehr zu tun."

Mit seinem Kameraden Helmut F. "teilte" sich Gieschen "einen Juden". Außerdem hatte jeder der beiden "eine Jüdin, die eine ist 15 und die andere 19 Jahre alt, die eine heißt Eide und die andere Chawah. Die machen für uns alles, was wir wollen."

"Sie haben keine Zukunft mehr"

Dabei war das Schicksal, dienstverpflichtet für deutsche Besatzungseinheiten zu sein, noch das Beste, was Juden in Litauen 1941 passieren konnte. Gieschen schrieb ganz offen an seine Frau: "Die Juden sind Freiwild. Jeder kann sich auf der Straße einen greifen, um ihn für sich in Anspruch zu nehmen. Ich möchte in keiner Judenhaut stecken." Und geradezu zynisch fährt er fort: "Man kann den Juden nur noch einen gut gemeinten Rat geben: Keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Sie haben keine Zukunft mehr."

Diese Briefe stammen alle von Ende Juni und Anfang Juli 1941, also bevor die unterschiedlosen Erschießungen aller Juden durch die Einsatzgruppen und bald auch Polizeieinheiten begannen. Am 20. Juli 1941 notierte Gieschen aus dem litauischen Städtchen Jelgava, auf Deutsch Mitau genannt: "Die Juden sind sämtlich heraus. Wo man die Bande gelassen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es in Mitau keine Juden mehr. Sie müssen wohl auf dem Land arbeiten." In Wirklichkeit waren sie erschossen worden, in einem Wald in der Nähe.

Spätestens einen Monat später war der Massenmord für Gieschen völlig selbstverständlich. Er schrieb: "Gestern Nacht sind aus diesem Ort 150 Juden erschossen worden, Männer, Frauen und Kinder, alles umgelegt. Die Juden werden gänzlich ausgerottet. Liebe Hanna, mache Dir keine Gedanken darüber es muss sein." Fast bedauernd stellte der Bataillonsfotograf am 22. August 1941 fest, dass er nicht bei einer Erschießung von "Heckenschützen" dabei gewesen war: "Ich hätte allerlei vor meine Linse bekommen."

Gieschen fühlte sich als normaler Soldat

Obwohl Morden und Ausplündern des besetzten Landes die wichtigste Aufgabe der Reservepolizisten war, fühlte sich Gieschen als ganz normaler Soldat: "Ich bin stolz darauf, dass ich hier oben mitmachen kann und viel erlebe." Trotzdem hoffte er, dass sein Einsatz bald vorbei sein würde – allerdings nicht wegen der Untaten, die er sah und zum Teil auch selbst verübte: "Ich sage bloß, es darf nicht zu lange dauern und muss auch mal wieder aufhören, weil man doch auch noch andere Interessen hat und die paar Jahre, die man noch lebt, im Kreise seiner Familie glücklich verleben möchte."

Ende September 1941 schilderte er seine jüngsten Erlebnisse hinter der Front: "Wir sind 25 Kilometer durch den Wald gegangen und haben sämtliche Häuser und Scheunen angesteckt und in Flammen aufgehen lassen." Auf diese Weise sollten mögliche Quartiere für Partisanen zerstört werden – doch im Ergebnis handelte es sich um einen Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Zivilbevölkerung.

24 Stunden am Marterpfahl

Auch Folterungen an Gefangenen gehörten zum Alltag: "Hauptmann Petersen meinte, die Brüder würden nicht eher erschossen, bis man etwas aus ihnen heraus geholt hatte." Der aktive Polizeibeamte ließ den einen an einen Pfahl binden, an einen richtigen Marterpfahl. Der Pfahl wurde in der Nähe der Küche aufgestellt, damit der Gefangene die Düfte des Essens direkt in die Nase kriegte und da musste er 24 Stunden stehen, vom Mittag bis zum nächsten Mittag. Ich habe den armen Kerl bedauert, denn vor allen Dingen während der Nacht da draußen angebunden stehen, ist kein Vergnügen. Am nächsten Morgen wurde er verhört und hat dann auch allerhand Aussagen gemacht."

Kommandeur des Regiments 105 war Major Hans Helwes. Als er 1963 über seine Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg vernommen wurde, behauptete er: "Während unseres Einsatzes im Osten war das mir unterstellte Bataillon 105 niemals an irgendwelchen Aktionen gegen Juden eingesetzt."

Die damals schon als Teil der Nürnberger Dokumente verfügbaren Briefe von Hermann Gieschen kannten deutsche Staatsanwälte offenbar nicht. Eine "gezielte Strafverschonung" sieht darin der Historiker Stefan Klemp, der als Rechercheur für das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem an der Aufarbeitung von Polizeiverbrechen arbeitet und jüngst interessante Erkenntnisse über die Auslöschung des tschechischen Dorfes vorgelegt hat.

Verfahren wegen Mordes eingestellt

Nach etwa elf Monaten wurde das Reserve-Polizeibataillon 105 aus dem "rückwärtigen Heeresgebiet" der Ostfront abgezogen und nach Holland verlegt. Hier waren wenigstens einige Einheiten an Deportationen von Juden beteiligt – Helwes räumte bei einer weiteren Vernehmung am 30. Januar 1968 ein, dass sein Bataillon "drei bis fünf Gefangenentransporte in den Osten begleiten musste".

Die Ankläger nahmen ihm diese Darstellung ab – und stellten das Verfahren wenige Monate später ein. In der Begründung hieß es: "Der Nachweis aber, dass Helwes über das Schicksal der Juden, für deren Wegschaffung die von ihm zu stellenden Begleitkommandos bestimmt waren, seinerzeit unterrichtet war, ist nicht zu führen." Hermann Gieschen, dessen Briefe das Schicksal der Juden im Einsatzgebiet des Reserve-Polizeibataillons 105 belegten, war schon 1951 gestorben.

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