1940
wurde im Seebad Prora auf Rügen ein Bremer Polizeibataillon
für seinen Einsatz in Russland gedrillt. Briefe von
Mitgliedern der Einheit belegen mit aller Deutlichkeit ihre
Teilhabe am Holocaust.
Eigentlich sollte der Koloss die betongewordene "Volksgemeinschaft" werden.
Doch Prora, das riesige Seebad der Nazi-Organisation "Kraft
durch Freude" auf Rügen blieb Fragment, wurde nur
zu einem kleinen Teil fertig gestellt. Auf eine andere Weise
als geplant jedoch stand und steht die riesige Bettenburg,
die sanft geschwungen dem Ostseestrand folgt, für die
in Wirklichkeit mörderische Ideologie der "Volksgemeinschaft".
Denn hier wurden mindestens einmal, wahrscheinlich aber häufiger
Täter des Holocaust ausgebildet. Das hat jetzt der Bremer
Historiker Karl Schneider herausgefunden.
Seit langem beschäftigt sich der 75-jährige pensionierte
Professor für Verwaltungsrecht und ehemalige Polizist
mit der Verstrickung von Polizeieinheiten seiner Heimatstadt
in den Holocaust. Schon mehrere Bücher hat Schneider
dazu vorgelegt. Neu ist, dass die Männer des Bremer
Polizei-Reservebataillons 105 in Prora an Infanteriewaffen
ausgebildet wurden. Damit waren sie geeignet, das Mordhandwerk
hinter der Ostfront auszuüben.
Im Dritten Reich unterstand die gesamte Polizei seit 1936
dem "Reichsführer SS", Heinrich Himmler. Die
uniformierte Schutzpolizei firmierte nun – übrigens
zusammen mit der Feuerwehr – als Ordnungspolizei, die
Kriminalpolizei und der SS-Apparat wurden zu Kriegsbeginn
als Reichssicherheitshauptamt zusammengefasst.
Meistens Bürger mittleren Alters
In fast allen größeren deutschen Städten
gab es zu diesem Zeitpunkt eine Polizeireserve, meistens
Bürger mittleren Alters. Im Zuge der Mobilisierung 1939/40
wurden aus diesen Reservisten spezielle Polizeibataillone
aufgestellt, die zum Einsatz als Ordnungskräfte in besetzten
Ländern vorgesehen waren.
Das Reserve-Polizeibataillon 105 wurde Ende September 1939
zunächst als "Ergänzungs-Bataillon II" aufgestellt.
Die Offiziere und Unteroffiziere, also Kompanie-, Zug- und
Gruppenführer waren aktive Polizisten, die Mannschaften
dagegen einberufene Reservisten zusammen. Die meisten von
ihnen stammten aus Bremen, allerdings einige auch aus Hamburg.
Ernst wurde es für die Männer, die meist zwischen
Ende dreißig und Fünfzig waren, am 30. April 1940:
Ihr erster Marschbefehl führte sie nach Prora, zur Ausbildung
an Infanteriewaffen wie Maschinengewehren. Nach vier Wochen
ging es weiter nach Norwegen, das die Wehrmacht im April
und Mai besetzt hatte. Da die Kampftruppen nach Frankreich
abgezogen werden sollten, mussten andere Männer die
Aufgaben der Besatzungsmacht übernehmen.
"Ich habe den besten Posten"
Genau dafür waren die Reserve-Polizeibataillone eigentlich
vorgesehen. Nach den Briefen des Bremer Kaufmanns Hermann
Gieschen an seine Frau Hanna war die Zeit in Oslo angenehm;
es gab weder Kampfhandlungen noch Bedrohungen. Im Februar
1941 kehrte das Bataillon zurück nach Bremen, um dann
am 28. Mai 1941 erneut verlegt zu werden, diesmal nach Ostpreußen
in die Nähe der Grenze zur damaligen Sowjetrepublik
Litauen.
Gieschen erhielt den Auftrag, als Bataillonsfotograf den
Einsatz der "105er" zu dokumentieren. Er schrieb
nach Hause: "Stelle Dir doch mal vor, ich habe doch
augenblicklich den besten Posten im ganzen Bataillon. Ich
brauche nichts zu tun, als interessante Motive festzuhalten.
Das ist eine Arbeit, die mir obendrein noch Spaß macht." Schon
unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion
am 22. Juni 1941 vermerkte Wachtmeister Gieschen: "Der
Major sagt, jeder Verdächtige ist sofort zu erschießen.
Na, ich bin gespannt."
Am 27. Juni 1941 überschritt Bataillon 105 die Grenze,
und schon eine Woche später berichtete der Reservepolizist: "Vorgestern
hat die erste Kompanie ein Flintenweib und sechs Heckenschützen
erschossen. Ich bin nicht dabei gewesen. Die Biester haben
deutsche Soldaten aus dem Hinterhalt erschossen. Sie mussten
sich ihr Grab selbst schaufeln." Gieschen war klar,
was auf seine Kameraden und ihn wartete: "Mit diesen
Elementen wird es noch länger dauern, bis alles ruhig
ist. Die Wälder sollen noch voll sitzen."
Juden wurden zu Sklaven
Der damals 39-Jährige hatte sich vorgenommen, wirklichkeitsgetreu
zu berichten: "Weißt Du, ich will Dir lieber so
ein bisschen die Wahrheit schreiben, wie es ist. Sonst hörst
Du was von anderer Seite und bekommst vielleicht ein falsches
Bild." Und was die Gewalt gegen angebliche "Heckenschützen" und
Juden anging, hielt er sich an seinen Vorsatz. So schrieb
er, dass sich seine Kompanie "eine Judenwohnung hergerichtet" habe
als Quartier: "Die Juden des Ortes sind Sonntag morgen
ganz früh vom Vorkommando geweckt worden, mussten zum
größten Teil ihre Häuser und Wohnungen verlassen
und für uns frei machen."
Die Polizisten hielten sich die wehrlosen Menschen praktisch
als persönliche Sklaven: "Jeden Morgen um sieben
Uhr muss das auserwählte Volk antreten und alle Arbeit
für uns machen. Sie müssen die Bude ausfegen, Stiefel
putzen, Wäsche waschen und plätten, Besorgungen
machen, Wasser holen und wegbringen usw. Wir brauchen überhaupt
nichts mehr zu tun."
Mit seinem Kameraden Helmut F. "teilte" sich Gieschen "einen
Juden". Außerdem hatte jeder der beiden "eine
Jüdin, die eine ist 15 und die andere 19 Jahre alt,
die eine heißt Eide und die andere Chawah. Die machen
für uns alles, was wir wollen."
"Sie haben keine Zukunft mehr"
Dabei war das Schicksal, dienstverpflichtet für deutsche
Besatzungseinheiten zu sein, noch das Beste, was Juden in
Litauen 1941 passieren konnte. Gieschen schrieb ganz offen
an seine Frau: "Die Juden sind Freiwild. Jeder kann
sich auf der Straße einen greifen, um ihn für
sich in Anspruch zu nehmen. Ich möchte in keiner Judenhaut
stecken." Und geradezu zynisch fährt er fort: "Man
kann den Juden nur noch einen gut gemeinten Rat geben: Keine
Kinder mehr in die Welt zu setzen. Sie haben keine Zukunft
mehr."
Diese Briefe stammen alle von Ende Juni und Anfang Juli
1941, also bevor die unterschiedlosen Erschießungen
aller Juden durch die Einsatzgruppen und bald auch Polizeieinheiten
begannen. Am 20. Juli 1941 notierte Gieschen aus dem litauischen
Städtchen Jelgava, auf Deutsch Mitau genannt: "Die
Juden sind sämtlich heraus. Wo man die Bande gelassen
hat, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es in Mitau keine
Juden mehr. Sie müssen wohl auf dem Land arbeiten." In
Wirklichkeit waren sie erschossen worden, in einem Wald in
der Nähe.
Spätestens einen Monat später war der Massenmord
für Gieschen völlig selbstverständlich. Er
schrieb: "Gestern Nacht sind aus diesem Ort 150 Juden
erschossen worden, Männer, Frauen und Kinder, alles
umgelegt. Die Juden werden gänzlich ausgerottet. Liebe
Hanna, mache Dir keine Gedanken darüber es muss sein." Fast
bedauernd stellte der Bataillonsfotograf am 22. August 1941
fest, dass er nicht bei einer Erschießung von "Heckenschützen" dabei
gewesen war: "Ich hätte allerlei vor meine Linse
bekommen."
Gieschen fühlte sich als normaler Soldat
Obwohl Morden und Ausplündern des besetzten Landes
die wichtigste Aufgabe der Reservepolizisten war, fühlte
sich Gieschen als ganz normaler Soldat: "Ich bin stolz
darauf, dass ich hier oben mitmachen kann und viel erlebe." Trotzdem
hoffte er, dass sein Einsatz bald vorbei sein würde – allerdings
nicht wegen der Untaten, die er sah und zum Teil auch selbst
verübte: "Ich sage bloß, es darf nicht zu
lange dauern und muss auch mal wieder aufhören, weil
man doch auch noch andere Interessen hat und die paar Jahre,
die man noch lebt, im Kreise seiner Familie glücklich
verleben möchte."
Ende September 1941 schilderte er seine jüngsten Erlebnisse
hinter der Front: "Wir sind 25 Kilometer durch den Wald
gegangen und haben sämtliche Häuser und Scheunen
angesteckt und in Flammen aufgehen lassen." Auf diese
Weise sollten mögliche Quartiere für Partisanen
zerstört werden – doch im Ergebnis handelte es
sich um einen Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Zivilbevölkerung.
24 Stunden am Marterpfahl
Auch Folterungen an Gefangenen gehörten zum Alltag: "Hauptmann
Petersen meinte, die Brüder würden nicht eher erschossen,
bis man etwas aus ihnen heraus geholt hatte." Der aktive
Polizeibeamte ließ den einen an einen Pfahl binden,
an einen richtigen Marterpfahl. Der Pfahl wurde in der Nähe
der Küche aufgestellt, damit der Gefangene die Düfte
des Essens direkt in die Nase kriegte und da musste er 24
Stunden stehen, vom Mittag bis zum nächsten Mittag.
Ich habe den armen Kerl bedauert, denn vor allen Dingen während
der Nacht da draußen angebunden stehen, ist kein Vergnügen.
Am nächsten Morgen wurde er verhört und hat dann
auch allerhand Aussagen gemacht."
Kommandeur des Regiments 105 war Major Hans Helwes. Als
er 1963 über seine Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg
vernommen wurde, behauptete er: "Während unseres
Einsatzes im Osten war das mir unterstellte Bataillon 105
niemals an irgendwelchen Aktionen gegen Juden eingesetzt."
Die damals schon als Teil der Nürnberger Dokumente
verfügbaren Briefe von Hermann Gieschen kannten deutsche
Staatsanwälte offenbar nicht. Eine "gezielte Strafverschonung" sieht
darin der Historiker Stefan Klemp, der als Rechercheur für
das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem an der Aufarbeitung
von Polizeiverbrechen arbeitet und jüngst interessante
Erkenntnisse über die Auslöschung des tschechischen
Dorfes vorgelegt hat.
Verfahren wegen Mordes eingestellt
Nach etwa elf Monaten wurde das Reserve-Polizeibataillon
105 aus dem "rückwärtigen Heeresgebiet" der
Ostfront abgezogen und nach Holland verlegt. Hier waren wenigstens
einige Einheiten an Deportationen von Juden beteiligt – Helwes
räumte bei einer weiteren Vernehmung am 30. Januar 1968
ein, dass sein Bataillon "drei bis fünf Gefangenentransporte
in den Osten begleiten musste".
Die Ankläger nahmen ihm diese Darstellung ab – und
stellten das Verfahren wenige Monate später ein. In
der Begründung hieß es: "Der Nachweis aber,
dass Helwes über das Schicksal der Juden, für deren
Wegschaffung die von ihm zu stellenden Begleitkommandos bestimmt
waren, seinerzeit unterrichtet war, ist nicht zu führen." Hermann
Gieschen, dessen Briefe das Schicksal der Juden im Einsatzgebiet
des Reserve-Polizeibataillons 105 belegten, war schon 1951
gestorben. welt.de
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