08.06.12 welt.de
Nicht die SS, Polizisten mordeten in Lidice
Von Sven Felix Kellerhoff

Der Massenmord im tschechischen Dorf Lidice vor 70 Jahren gehört zu den bekanntesten Verbrechen des Zweiten Weltkrieges. Neue Forschungen zeigen, dass Ordnungspolizisten die Haupttäter waren.

Die Mörder kamen in der Dunkelheit. Die Sonne war schon fast zwei Stunden untergegangen über dem Dorf Lidice westlich von Prag, als gegen 22 Uhr knapp ein Dutzend schwere Lastwagen eintrafen. Mehr als 200 Mitglieder der Ordnungspolizei, zum größten Teil aus Halle an der Saale, saßen ab und umstellten den Ort, unterstützt von einer Kompanie Wehrmachtssoldaten und tschechischen Kollaborateuren.

Den Polizeireservist Willy C., ebenfalls aus Halle, beschlich ein böses Gefühl: "Ich hatte das Empfinden, dass hier etwas Unrechtes vorgehen sollte." Also bat er seinen Kompanie-Chef, einen gewissen Konrad Weber, ihn zum Absperrdienst einzuteilen. Als Grund gab er an, "dass ich stark kurzsichtig bin". Sein Vorgesetzter bewies Verständnis: Willy C. schob in den kommenden Stunden Wachdienst am Rand von Lidice.

So bekam er aus gewisser Distanz mit, was im Kern des Dorfes mit seinen nur 93 Häusern geschah. Seine Kameraden in Polizeiuniform nämlich trieben, unter dem Kommando einiger SS- und Gestapo-Offiziere, die etwa 500 Bewohner Lidices zusammen. Knapp 200 Frauen und etwa halb so viele Kinder wurden mit Bussen in den Nachbarort Kladno gebracht. Die Frauen kamen überwiegend in KZs, die meisten Kinder wurden später wohl vergast.

An der Wand lehnten Matratzen

Den Männern war ein anderes Schicksal zugedacht. Gegen Mitternacht, eben hatte der 10. Juni 1942 begonnen, bekam Willy C. eine neue Weisung: Zusammen mit einigen Kameraden sollte er nun die verbliebenen Bewohner von Lidice zu einem nahegelegenen Gutshaus bringen. Diesem Befehl konnte er sich nicht entziehen – er tat wie befohlen, trotz seines schlechten Gefühls.

Am Morgen, wohl gegen sechs Uhr, begann das eigentliche Massaker: In Zehnergruppen führten Schutzpolizisten die Männer von Lidice in den Garten des großen Hofes der Familie Horak. An eine Wand hatten sie Matratzen gelehnt, vor denen die Ortsbewohner Aufstellung nehmen mussten. Ihnen gegenüber stand das Füsilierkommando: 20 Schutzpolizisten aus Halle unter dem Befehl ihres Zugführers. Dann knallten Gewehrschüsse, die natürlich auch Willy C. am Dorfrand mitbekam. Die Matratzen sollten verhindern, dass Querschläger die Männer des Pelotons gefährdeten.

Nach nicht einmal zwei Stunden war alles vorbei, lagen 173 tschechische Männer tot im Garten von Horaks Hof. Schon um sieben Uhr hatten Schutzpolizisten begonnen, erste Häuser in Lidice in Brand zu setzen, nachdem sie zuvor noch das Vieh und alle mobilen Wertsachen fortgeschafft hatten – auch Radios und Fahrräder wurden beschlagnahmt.

Symbol für Besatzungsverbrechen

Das Massaker von Lidice im Juni 1942 gehört zu den bekanntesten einzelnen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Der Name der Dorfes sollte nach dem Willen der SS-Führung in Prag "ausgemerzt" werden – doch das Gegenteil trat ein: Durch die kalte Grausamkeit der vermeintlichen "Vergeltungsaktion" ist Lidice zusammen mit dem auf den Tag genau zwei Jahre später ausgelöschten französischen Dorf Oradour-sur-Glane zum weitweit bekannten Symbol für Besatzungsverbrechen geworden.

Umso erstaunlicher, dass fast überall zu lesen ist, SS-Leute oder Angehörige der Sicherheitspolizei hätten das Verbrechen verübt. In Wirklichkeit, das zeigen die jetzt in der Schriftenreihe des Geschichtsortes Villa ten Hompel erscheinende Studie des Historikers Stefan Klemp, waren ganz normale Schutzpolizisten die Haupttäter.

Hauptsächlich arbeitet Klemp als Rechercheur für das Simon-Wiesenthal-Center in Jerusalem und sucht nach den letzten noch lebenden NS-Tätern. Anlässlich des 70. Jahrestages des Massenmordes in Lidice analysiert er in der Broschüre der Dokumentationsstätte in Münster zum ersten Mal systematisch die Verstrickung deutscher Schutzpolizisten in NS-Verbrechen im besetzten Tschechien, damals "Protektorat Böhmen und Mähren" genannt. Dafür hat er alle verfügbaren Ermittlungsakten ausgewertet.

Frei erfundene "Beweise"

Anlass für das Massaker war das Attentat auf Hitlers Statthalter in Prag, Reinhard Heydrich. Bei einem Bombenanschlag am 27. Mai 1942 war der zweite Mann der SS und enge Vertraute von Heinrich Himmler so schwer verletzt worden, dass er eine Woche später an den Folgen starb.

Zu dieser Zeit hatten schon massive angebliche "Vergeltungsmaßnahmen" begonnen – sie waren, da Heydrichs kommissarischer Nachfolger Kurt Daluege praktisch keine Hinweise auf den Verbleib der Täter hatten, nichts als Terror. Zwar behauptete die deutsche Besatzungszeitung in Prag "Der neue Tag", es hätte "unwiderlegbare" Beweise für die Zusammenarbeit von Einwohnern von Lidice und den Attentätern gegeben. Das aber war frei erfunden.

Daluege, schon seit 1922 Mitglied der Hitler-Partei, gehörte als Chef der uniformierten deutschen Polizei zur Führung des NS-Regimes. Sie wurde im Dritten Reich zur Unterscheidung der Kriminal- und politischen Polizei "Ordnungspolizei" genannt und umfasste neben den ganz normalen Schutzpolizisten auch die Feuerwehr. Kaum hatte Daluege die Funktion Heydrichs in Prag vorläufig übernommen, ließ er "schlagartig 22 Kompanien Schutzpolizei in das Protektorat" einrücken. Er konnte sich darauf verlassen, dass diese Männer seine Befehle ohne Zögern ausführen würden.

Nicht die einzige Mordaktion

Die Taktik des SS-Oberstgruppenführers war einfach: Seine Polizisten sollten Angst und Schrecken verbreiten, um so die tschechische Widerstandsbewegung einzuschüchtern und die Auslieferung der aus England eingeflogenen Attentäter zu erzwingen. Und sollte das nicht gelingen, würde eben weiter gemordet.

Lidice war nur die bekannteste, aber keineswegs die einzige Mordaktion Anfang Juni 1942 im "Protektorat". Auf dem Schießstand einer Polizeikaserne in Klattau etwa ermordeten Schutzpolizisten zahlreiche Tschechen, die angeblich von Standgerichten zum Tode verurteilt worden waren. Von dieser Mordaktion, ebenfalls ohne Zweifel ein Kriegsverbrechen, hat sich in Stasi-Akten eine Fotoserie erhalten. Auf den Bildern ist erkennbar, das die Männer des Erschießungskommandos die Uniformen von Polizeibataillonen tragen.

Diese und viele weitere Unterlagen jedoch gab die DDR-Staatssicherheit nicht an westdeutsche Ermittler weiter. Das war einer, jedoch nicht der einzige Grund für die unzureichende juristische Aufarbeitung des Massakers. Insgesamt 17 Jahre lang ermittelten die Zentrale Stelle in Ludwigsburg und die Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main, doch es kam zu keiner einzigen Anklage gegen einen der Täter von Lidice.

Im Geheimmagazin der Staatssicherheit

Klemp legt überzeugend dar, dass dies neben den grundsätzlichen Schwierigkeiten eines Rechtsstaates, Diktaturverbrechen seinen eigenen Prinzipien entsprechend abzuurteilen, auch mit der chaotischen Struktur der Polizeieinheiten im "Protektorat" zu tun hatte. Denn ständig wurden hier andere Einheiten eingesetzt, wechselten Zuständigkeiten und Einheitsbezeichnungen. Da aber nur konkret einzelnen Tätern nachgewiesene Verbrechen geahndet werden können, war hier eine große Hürde.

Zugleich aber zeigt Klemp, dass auch grundsätzlich die Verbrechen von deutschen Polizisten im Zweiten Weltkrieg zu wenig Aufmerksamkeit bei der bundesdeutschen Justiz bekamen. Nicht einmal der SS-Gruppenführer und Polizeibefehlshaber in Prag Paul Riege wurde für seine Verstrickung in Besatzungsverbrechen im "Protektorat" und Polen angeklagt. Stattdessen veröffentlichte Riege eine mehrfach aufgelegte "Kleine Polizei-Geschichte", in der er die Verstrickung der Schutzpolizei kleinredete.

Mit Jahrzehnten Verspätung

Das offenkundige Unrecht hatte Riege übrigens schon unmittelbar vor dem Massaker von Lidice erkannt: Er bekam am Abend des 9. Juni 1942 den Befehl, das Dorf auszulöschen – und meldete sich umgehend krank. Angeblich habe er ein "Darmleiden", doch nur Stunden zuvor hatte an einer Jagdgesellschaft teilgenommen. Natürlich hatte Paul Riege nach 1945 kein Interesse daran, dass die Rolle der uniformierten Polizei aufgeklärt wurde. So begann erst mit Jahrzehnten Verspätung die Erforschung vieler Verbrechen, und erst zum 70. Jahrestag liegt die erste umfassende Studie zu den Tätern des Massakers von Lidice vor.

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