05.04.2012 — 12:37 Uhr fr-online.de
"Grass hat nicht das Recht, so zu sprechen"

In Israel erreichen die Wellen der Empörung über das Grass-Gedicht „Was gesagt werden muss“ inzwischen das Regierungsbüro. "Erbärmlich" nennt Premier Netanjahu die Israel-Kritik des Dichters. Grass' Ansichten fänden im Land aber auch Zustimmung - wäre da nicht der Makel einer lange verschwiegene Bürde.
Jerusalem –

In Israel haben die Wellen der Empörung über das Grass-Gedicht „Was gesagt werden muss“ am Donnerstagnachmittag auch das Regierungsbüro erreicht. „Günter Grass erbärmliche Gleichsetzung von Israel und Iran, ein Regime, das den Holocaust leugnet und das Israel auszutilgen droht, sagt wenig über Israel, aber viel über Grass“, hieß es in einer Erklärung von Premier Benjamin Netanjahu. „Iran, nicht Israel ist eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Welt.“ Und weiter: „Es ist der Iran, nicht Israel, der das Massaker des syrischen Regimes an seinem eigenen Volk unterstützt. Es ist der Iran, nicht Israel, der Frauen steinigen lässt, Homosexuelle hängt und Millionen seine Bürger brutal unterdrückt.“

Die meisten Israelis sind zwar derzeit mit Vorbereitungen für Pessach beschäftigt. Aber als Aufregerthema hat das Grass-Gedicht ebenso in den Medien bitterböse Kommentare ausgelöst. Die Grass-Attacke auf Israel reflektierte, wie sich der deutsche Antisemitismus in den letzten Jahren gewandelt habe, zitierte die rechtskonservative „Jerusalem Post“ am Donnerstag Efraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal Center in Israel und weltweit bekannt als Nazijäger. „Grass spricht für ein Spektrum von vorgeblich respektablen Deutschen, die ihre antisemitischen Ansichten verbergen; sie können sie nicht zu Hause in Deutschland äußern, aber richten sie gegen Israel, das ihnen zum Symbol der verhassten Juden geworden ist.“ Und weiter: „Die Blechtrommel, die Grass schlägt, zeugt nicht von moralischem Gewissen sondern von tiefen Vorurteilen gegen das jüdische Volk, die primären Opfer des deutschen Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie.“

Weit gelassener setzt sich Tom Segev, israelischer Historiker und Journalist, in der linksliberalen „Haaretz“ mit den in Poesie verpackten politischen Ansichten von Grass auseinander. Die, so Segev, seien „eher pathetisch als antisemitisch“. Erstens debattiere Israel und die Welt seit Monaten über alle operativen und moralischen Aspekte eines denkbaren Präventivschlags gegen iranische Atomanlagen. Grass habe dazu nichts Neues zu sagen.

Zweitens wettere etwa der frühere Mossad-Chef Meir Dagan nahezu unaufhörlich gegen einen Militärangriff. Wenn er seine Meinung auch noch in Gedichte verpacke, würde man ihn Israel für meschugge erklären.

Fatale Gleichsetzung Israels mit Iran

Nein, unfair sei an Grass' Gedicht etwas anderes, nämlich die Gleichsetzung von Israel und Iran. Schließlich habe Israel nie einem anderen Land mit Vernichtung gedroht. Zudem würde ein Militärschlag nicht das iranische Volk auslöschen, sondern sich gezielt gegen die Nuklearanlagen des Landes richten. „Selbst Lübeck, die Stadt des Marzipans, wo Grass schreibt, malt und bildhauert, wäre ein besserer Platz, wenn Iran nicht die Bombe bekommt.“

Auch sei das Grass-Lamento, nicht früher Israels Nuklearkapazität verurteilt zu haben, nicht nur heuchlerisch sondern auch überholt. Seitdem der Israeli Mordechai Vanunu 1986 Details des israelischen Kernprogramms aufdeckte und wegen Geheimnisverrats 18 Jahre ins Gefängnis musste, so Segev, gebe es unendlich viele Veröffentlichungen: „Inzwischen befassen sich tausende Websites mit Israels Atomarsenal.“

Was den Antisemitismusvorwurf angehe, rät Segev Grass, sich zu entspannen: „Sie haben ein ziemlich pathetisches Gedicht geschrieben, aber Sie sind nicht antisemitisch, nicht mal antiisraelisch, jedenfalls nicht mehr als Dagan.“

„Maariv“-Kommentator Schai Golden stößt sich indes an der von Grass allzu spät eingeräumten Mitgliedschaft in der Waffen-SS, womit der Dichter seine moralische Autorität verspielt habe. „Für Nachsicht, Flexibilität oder Konzessionen gegenüber Deutschland und den Deutschen in ihrer Haltung zu Israel gibt keinen Raum.“ Trotzdem kommt Golden zu einem überraschenden Schluss: „Zufälligerweise stimme ich mit dem meisten, was er (Grass) gesagt hat, überein. Es ist einfach nur so, dass er nicht das moralische und historische Recht hat, so zu sprechen.“

Auch aus der israelischen Politik äußerten sich einige Stimmen zu Grass. Dichter kommentiere man zwar normalerweise nicht, reagierte das israelische Außenministerium auf das kontroverse Grass-Gedicht. Aber in diesem Falle, so Sprecher Yigal Palmor, könne er soviel sagen: „Nachdem sich Günter Grass früher mit Romanen hervorgetan hat, versucht er sich heute in der Sparte schlechte Science Fiction.“

Seine Behauptung, Israel gefährde den Weltfrieden, ermangele „jeglichen Bezugs zur Realität“ und sei mit Vorurteilen gespickt. Auch plane Israel keinen Angriffskrieg, sondern habe nur betont, dass notfalls alle Optionen infrage kämen, um Iran daran zu hindern, Atommacht zu werden.

Der frühere israelische Botschafter Shimon Stein in Berlin warf Günter Grass Verlogenheit in seinem Umgang mit Israel vor. Sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ zeuge von einer „gestörten Beziehung zur eigenen Vergangenheit, gestört auch zu den Juden und zu Israel“. Selbst die Verse, in denen Grass sich schuldbewusst gebe und von seinem Makel spreche – der lange verschwiegenen Mitgliedschaft in der Waffen-SS –, machten seine „verlogene Verbundenheit zu Israel“ deutlich.

Bei seiner Ursachendeutung des Iran-Konflikts bediene sich Grass „bekannter Schablonen“, ohne sich auszukennen. Schließlich gingen Teherans nukleare Ambitionen viel weiter zurück und seien nicht erst durch Israel ausgelöst worden. Derart mit diesem Thema umzugehen, so Stein in einem Telefoninterview mit dieser Zeitung, „ist alles andere als seriös“.

Bei Grass „wundert mich inzwischen allerdings nichts mehr“, sagte Stein. Er selber sei im Zwiespalt, ob man nicht besser seine Äußerungen unkommentiert lasse, „um diesem alten Mann, der mit seiner Vergangenheit nicht zurecht kommt“, nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken. „Ich bedauere, dass dass „Süddeutsche Zeitung“ und „Tagesspiegel“ dieses Gedicht überhaupt gedruckt haben.“

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