18.03.2012 — 20:12 Uhr bild.de
Deutsche Nazi-Jäger auf heißen Spuren
HANS-WILHELM SAURE

Ludwigsburg/Rio de Janeiro – Es ist die Jagd nach den letzten untergetauchten Nazi-Schergen. 67 Jahre nach Kriegsende durchforsten deutsche Staatsanwälte und Kriminalkommissare Archive in Brasilien und Chile auf Hinweise nach geflohenen NS-Verbrechern.

„In Rio de Janeiro soll es Geheimdienstakten zu Nazi-Tätern geben, die Ende der 40er-Jahre nach Brasilien einreisen wollten“, sagt Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm (62), Leiter der „Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ in Ludwigsburg. „Der Tipp stammt von einer Historikerin aus Brasilien. Diese Akten sind die heißeste Spur seit Jahren“, sagt Schrimm.? Und Mord verjährt nie!

„Archivo Nacional“ in Rio de Janeiro. Hier werden Einwanderungsakten aufbewahrt. 20 000 Deutsche siedelten zwischen 1945 und 1959 nach Brasilien um. Einige unter falschem Namen und mit einer dunklen Vergangenheit. Oberstaatsanwalt Schrimm und sein Kollege Hauptkommissar Uwe Steinz (52) recherchieren hier direkt vor Ort. „Wir notieren uns Namen und Daten von deutschen Einwanderern. Zu Hause prüfen wir, ob darunter auch NS-Täter sind“, erklärt Schrimm. „Das ist ein Puzzlespiel aus vielen Mosaiksteinen.“

Seit dem Jahr 2000 ist Schrimm Leiter der „Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“. Schon vorher jagte er in anderen Funktionen als Staatsanwalt Nazi-Schergen. Sein größter Erfolg: Die Verurteilung des SS-Oberscharführers Josef Schwammberger 1992 zu lebenslanger Haft wegen Mordes und Beihilfe zum Mord in 650 Fällen. Jahrelang hatte Schrimm an dem Fall gearbeitet. Schwammberger hatte sich in Argentinien versteckt.?

„Früher haben wir ermittelt, wenn wir Hinweise zu möglichen NS-Verbrechern bekamen. Doch die werden immer seltener. Deswegen suchen wir jetzt selbst in Archiven nach Spuren“, erklärt der leitende Oberstaatsanwalt.?

„Arquivo Historico“ in Rio de Janeiro. Hinter der schweren, dunklen Holztür des streng gesicherten Archivs lagern die verschiedensten Akten. Findbücher, mit denen die Fahnder gezielt nach Unterlagen suchen können, gibt es nicht. Nur zerfledderte Karteikarten. Schrimm: „Wenn wir diese Geheimdienstakten aus den 40er-Jahren finden, wäre das für uns wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Leider hatten wir bislang noch keinen Erfolg.“?

Im April fliegt Hauptkommissar Uwe Steinz mit zwei Kolleginnen wieder nach Rio de Janeiro. Der Ermittler zu BILD.de: „Wir sind 18 Tage im Archivo Nacional und durchforsten Tausende Karteikarten über Einwanderungen und Einbürgerungen aus der Nachkriegszeit."

Inzwischen haben die Fahnder viele Erfahrungen gesammelt, woran man in Südamerika untergetauchte NS-Verbrecher erkennt. Uwe Steinz: „Es gibt ein Raster, nach dem wir suchen. Kriegsverbrecher reisten fast immer allein ein. Erst später holten sie ihre Familie nach. Und die allermeisten kamen unter falscher Identität mit einem Pass des Internationalen Roten Kreuzes.“

Über die so genannte „Rattenlinie“ flohen über Italien bis zu 800 höhere NS-Funktionäre allein nach Argentinien. Einige Hundert tauchten in Brasilien, Chile und Paraguay unter.

Auch in Chile recherchieren die deutschen Ermittler. „In Einwanderungsakten suchen wir nach archivierten Pässen des internationalen Roten Kreuzes“, sagt Hauptkommissar Uwe Steinz. „Mit diesen Ausweisen sind NS-Verbrecher wie Adolf Eichmann unter falschen Namen nach Südamerika geflüchtet. Bei meiner letzten Ermittlung in Chile bin ich auf einen SS-Angehörigen gestoßen, der möglicherweise mit NS-Verbrechen in Verbindung steht.“

Es ist ein Kampf gegen die Zeit und Aktenberge. Mit jedem Tag wird die Wahrscheinlichkeit geringer, einen Kriegsverbrecher noch lebend aufzuspüren. Kurt Schrimm: „Auch wenn die Chancen nicht sehr groß sind. Eins dürfen wir uns nie vorwerfen lassen: Etwas unversucht gelassen zu haben.“

bild.de