09.02.2012 spiegel.de
NS-Verbrecher scheitert mit Anzeige gegen Journalisten
Jörg Diehl

Dürfen Journalisten ein Gespräch mit einem Kriegsverbrecher versteckt aufnehmen und ausstrahlen? Die Staatsanwaltschaft Aachen hatte zwei niederländische Reporter angeklagt, die den früheren SS-Mann Heinrich Boere interviewten. Der Richter zeigte sich gnädig - und vermied Grundsatzerörterungen.

"Wir haben alles gemacht", sagt der alte Mann in dem Film, "die haben uns so verrückt gemacht." Das Bild, das ein Projektor an die Wand des Gerichtssaals wirft, wackelt in diesem Augenblick etwas und der Mann sagt: "Befehl ist Befehl."

Heinrich Boere, heute 90 Jahre alt, ist ein verurteilter Kriegsverbrecher, der 1944 als Angehöriger der "Germanischen SS in den Niederlanden" drei unschuldige und wehrlose Zivilisten ermordet hat. Dafür verurteilte ihn das Landgericht Aachen im März 2010 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, seit einigen Monaten sitzt der frühere Bergarbeiter auch im Gefängnis.

Dennoch beschäftigt sein Fall an diesem Donnerstag erneut die deutsche Justiz.

Die Staatsanwaltschaft Aachen hat zwei niederländische Journalisten angeklagt, weil sie im August 2009 ein Gespräch mit Boere geführt und heimlich gefilmt hatten. Der Rentner, der Monate später vor Gericht stand, zeigte die Reporter Jan Ponsen und Jelle Visser nach Ausstrahlung des TV-Beitrags an. Es ging um die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes.

Die Sache schlug ziemlich schnell sehr hohe Wellen, in den Niederlanden empörte sich die Öffentlichkeit. Der Leiter des Simon-Wiesenthal-Centers sprach sogar von einem absurden Vorgang. Denn im Gegensatz zu den Berichterstattern der öffentlich-rechtlichen Fernsehsendung "EenVandaag" war der Mörder jahrzehntelang von der Justiz unbehelligt geblieben, geschützt als mutmaßlich deutscher Staatsbürger durch einen Erlass Adolfs Hitlers.

Die Aufgabe der Truppe: den Widerstand in den Niederlanden ersticken

Und so flackert am Vormittag das Corpus Delicti, der im September 2009 gesendete Film der Journalisten Visser und Ponsen, an der Wand des Saals 17 im Amtsgericht Eschweiler. Zu sehen ist ein alter Mann, im Rollstuhl sitzend, der mit seinem Besucher plaudert, über seine verstorbenen Hunde, seine Krankheiten und auch über die Dinge, die er im Krieg getan hat. Reue lässt er dabei nicht erkennen.

Boere, Sohn eines niederländischen Vaters und einer deutschen Mutter, war "ein Fanatiker", wie er SPIEGEL ONLINE bereits im August 2007 sagte. Ende 1940 hatte er sich als 18-Jähriger zur Waffen-SS gemeldet und fast zwei Jahre lang an der Ostfront gekämpft. 1942 kehrte er in die besetzten Niederlande zurück, wo er dem 15 Mann starken SS-Sonderkommando "Feldmeijer" zugeteilt wurde.

Diese Truppe hatte den unmittelbar auf Hitler zurückgehenden und als "Geheime Reichssache" eingestuften Auftrag, jeglichen aufkeimenden Widerstand in den Niederlanden durch willkürliche Erschießungen von angeblich antideutsch eingestellten Bürgern zu brechen.

Kam es zu Anschlägen auf die Besatzer oder ihre Kollaborateure, setzte der Höhere SS- und Polizeiführer Hanns Albin Rauter mit dem Codewort "Silbertanne" sein Mordkommando in Bewegung. Mindestens 54 Niederländer sollen diesen SS-Auftragskillern zum Opfer gefallen sein.

Vor Gericht bleiben viele Fragen unbeantwortet

"Wir kannten die Männer nicht. Der Sicherheitsdienst der SS gab uns die Namen und wir machten uns auf den Weg", sagte Boere 2007 SPIEGEL ONLINE. "Man sagte uns, es handele sich um Partisanen."

Diese Verbrechen des Killerkommandos thematisierte auch der 2009 ausgestrahlte Film der Reporter Vissen und Ponsen. In dem Beitrag wurden die unzweifelhaft heimlich in Boeres Altenheimzimmer gemachten Aufnahmen gezeigt. Und weil es in Deutschland verboten ist, verdeckt Ton aufzuzeichnen, landete die Sache vor der 30. Strafabteilung des Amtsgerichts Eschweiler und damit vor dem sehr leutselig auftretenden Richter Gisbert Fuchs.

Denn der ist in dieser kleinen deutsch-niederländischen Staatsaffäre von Beginn an eher auf Verständigung, als auf eine strenge Auslegung des Gesetzbuches aus - weshalb die Beweisaufnahme knapp ausfällt. So bleibt denn ungeklärt, wer außer dem Reporter Visser, der in dem Film als Boeres Besucher zu erkennen ist, an dem Undercover-Interview mitgewirkt hat, wie es überhaupt entstanden ist und worüber denn dabei wie lange gesprochen wurde. Die Drehkassette mit den Originalaufnahmen liegt dem Gericht jedenfalls nicht vor.

Die Journalisten sagen, sie hätten auf diese Weise den Mörder als Menschen zeigen wollen. Ihre Versuche, offiziell ein Fernsehinterview mit Boere führen zu können, seien vergeblich gewesen. Das Informationsinteresse der niederländischen Öffentlichkeit sei aber so groß gewesen, dass sie sich schließlich für das letzte Mittel entschieden hätten: den Einsatz einer versteckten Kamera.

Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiegt

Boeres Anwalt, Matthias Rahmlow aus Duisburg, hält es hingegen für unzulässig, sich solche Aufnahmen "zu erschleichen". Sein Mandant habe bereits zuvor zahlreiche Interviews gegeben und sei auch schon im niederländischen Fernsehen zu sehen gewesen. Er habe seine Taten niemals bestritten. Der "EenVandaag"-Bericht habe deswegen keinen Nachrichtenwert gehabt und keine neuen Erkenntnisse erbracht.

Tatsächlich kann man sich fragen, weshalb das verbotene Aufnehmen von Ton zwingend notwendig war. Warum nicht, wie bei deutschen TV-Anstalten durchaus üblich, die Tonspur der Kamera abgeschaltet wurde und nur Bilder aufgezeichnet wurden - was selbst dann nicht verboten ist, wenn es heimlich geschieht. Aber im Amtsgericht Eschweiler stellt diese Fragen niemand, an Grundsätzliches will man sich wohl lieber nicht wagen. Nicht hier, nicht jetzt.

Am Ende spricht Richter Fuchs die angeklagten Journalisten frei. Zum einen weil sie angeblich nicht wissen konnten, dass sie in Deutschland gegen das Gesetz verstoßen würden. Zum anderen, weil die Information der Öffentlichkeit in dieser Sache wichtiger gewesen sei als die Privatsphäre des Betroffenen. Es sei ein Grenzfall gewesen, so Fuchs, eine Abwägungsfrage. Und überhaupt sei der Bericht ja sehr sachlich und wenig reißerisch gewesen.

Heinrich Boere sagt in dem Film übrigens auf die Frage des Reporters Visser, ob er sich vor einer Gefängnisstrafe fürchte: "Wenn man so alt ist, ist das egal." Und er fügt hinzu: "Die haben jetzt im Gefängnis sogar Fernsehen."

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