08.02.2012 welt.de
Über die Privatsphäre eines greisen SS-Mörders
Henryk M. Broder

Weil sie einen verurteilten NS-Verbrecher in seinem Altersheim filmten, stehen zwei Reporter vor Gericht. Ihnen droht eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr.

Abgesehen von der Verleihung des Ordens wider den tierischen Ernst – alljährlich zur Karnevalszeit – und des Karlspreises für Verdienste um die europäische Einigung – immer an Christi Himmelfahrt – macht die Stadt Aachen nur selten von sich reden. Die westlichste Kommune Deutschlands, im Grenzgebiet zu den Niederlanden und Belgien, führt ein eher beschauliches Dasein jenseits der Schlagzeilen.

Heinrich Boere
Foto: REUTERS Der verurteilte Heinrich Boere pocht auf seine Rechte

Vor Kurzem allerdings wurde durch einen Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz bekannt, dass in Aachen seit zehn Jahren eine der rührigsten Neonazi-Gruppen der Bundesrepublik aktiv ist, die Kameradschaft Aachener Land (KAL). Worauf der Rat der Stadt erschrocken reagierte und eine Resolution verabschiedete, in der ein Verbot der KAL gefordert wurde.

"Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs"

Nun droht dem guten Ruf der Stadt neues Ungemach. Am Donnerstag beginnt vor dem zuständigen Amtsgericht in Eschweiler der Prozess gegen zwei Reporter des niederländischen Fernsehens, Jelle Visser und Jan Ponsen.

Sie sollen vor anderthalb Jahren einen Greis in einem Altersheim in Eschweiler besucht und dabei heimlich gefilmt haben. Was sich nach einer Episode aus der Reihe „Vorsicht Kamera“ anhört, kann mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr (beziehungsweise Geldstrafe) geahndet werden.
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Die „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“ nach Paragraf 201a des Strafgesetzbuches ist mitnichten eine Petitesse, auch wenn die Angeklagten behaupten, in Wahrnehmung ihrer beruflichen Pflichten und des öffentlichen Interesses gehandelt zu haben.

Was den Fall zudem zu einem grenzüberschreitenden Politikum macht, ist die Tatsache, dass es sich bei dem „Opfer“ der journalistischen Übergriffs um einen dreifachen, rechtskräftig verurteilten Mörder handelt: Heinrich Boere, der bis Ende vergangenen Jahres auf freiem Fuß war.

Dem SS-Sonderkommando "Feldmeijer" zugeteilt

Boere, 1921 in Eschweiler als Sohn eines holländischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, ist in den Niederlanden groß geworden. 1940 meldete er sich zur Waffen-SS und wurde 1942 dem SS-Sonderkommando „Feldmeijer“ zugeteilt, das im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen „Todesurteile“ im besetzten Holland vollstreckte.

Nach Kriegsende wurde Boere von einem holländischen Sondergericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt, das Urteil später in „lebenslänglich“ umgewandelt. Aber da hatte sich Boere schon nach Deutschland abgesetzt in seine Geburtsstadt, wo er mehr als 30 Jahre unbehelligt unter seinem richtigen Namen leben und als Bergmann arbeiten konnte.

Erst Anfang der 80er-Jahre stellten die Holländer einen Auslieferungsantrag, den die deutsche Justiz mit der Begründung ablehnte, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Boere durch den Eintritt in die Waffen-SS die deutsche Staatsbürgerschaft erworben habe.

Auch wurde ein Ermittlungsverfahren eingestellt, weil es sich bei den zur Last gelegten Taten nach Ansicht der zuständigen Zentralstelle für die Ermittlung von NS-Verbrechen um völkerrechtlich zulässige „Repressalien“ gehandelt hätte.

Dann dauerte es noch einmal mehr als 20 Jahre, bis das Verfahren 2007 wieder aufgenommen wurde.

Da war Boere bereits ein alter Mann. Seine Anwälte machten, wie in solchen Fällen üblich, geltend, er sei aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht verhandlungsfähig, kamen mit diesem Argument aber nicht durch. Im März 2010 wurde Boere vom Landgericht Aachen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Gutachter stellte "prinzipielle haftfähig" fest

Er bestritt nicht, 1944 drei Holländer eigenhändig erschossen zu haben, berief sich aber auf einen „Befehlsnotstand“ und darauf, im guten Glauben gehandelt zu haben. Im Dezember 2011 trat Boere die Strafe an, nachdem ein Gutachter festgestellt hatte, dass er „prinzipiell haftfähig“ wäre.

Nach Angaben der Aachener Staatsanwaltschaft sitzt er freilich nicht ein, sondern wird auf der Krankenstation einer Justizvollzugsanstalt ärztlich betreut.

Der Fall Boere wäre ein schönes Beispiel für das späte Erwachen der Justiz, die sich lange durch energische Zurückhaltung ausgezeichnet hat. Er wäre auch ein Anlass darüber nachzudenken, ob man einen Täter 66 Jahre nach der Tat überhaupt noch bestrafen kann. Ob es sinnvoll ist, einen 90-Jährigen „lebenslänglich“ wegzusperren, bei dem das Risiko, rückfällig zu werden, bei null liegt.

Man könnte auch fragen, ob nicht eher die Justiz wegen Verschleppung vor Gericht gehört – zumindest das der öffentlichen Meinung.

In die Privatsphäre eines Mörders eingedrungen

Aber alle diese Fragen müssen hinten anstehen, denn es geht darum, zwei Journalisten zu belangen, die in die Privatsphäre eines Mörders eingedrungen sind – nachdem er verurteilt, aber noch bevor das Urteil rechtskräftig wurde. Nun ist es die Staatsanwaltschaft, die sich ihrerseits auf eine Art Befehlsnotstand, das geltende Legalitätsprinzip, beruft.

Wenn mutmaßliche Straftaten zur Anzeige gebracht würden, dann müsse eben ermittelt und gegebenenfalls angeklagt werden. Alles Übrige sei Sache des Gerichts.

Auf der anderen Seite der Grenze hat der Fall erhebliches Aufsehen erregt. Die Holländer, deren Langzeitgedächtnis in Deutschland gern unterschätzt wird, haben nicht vergessen, wie viel Zeit sich die deutsche Justiz im Fall Boere genommen hat und mit was für einem Eifer sie nun hinter zwei Journalisten her ist, die sie nicht einmal zwingen kann, vor Gericht zu erscheinen.

Theoretisch könnten sie, wie Boere 1949 in Holland, in Abwesenheit verurteilt werden. Die Folgen wären an Peinlichkeit nicht zu übertreffen: Würde die deutsche Justiz, im Falle einer Verurteilung, einen Auslieferungsantrag stellen? Oder sich damit zufrieden geben, das Urteil mithilfe eines Gerichtsvollziehers zustellen zu lassen?

Jelle Visser und Jan Ponsen haben angekündigt, dass sie zum Termin erscheinen werden. In Begleitung holländischer Journalisten, die daheim keine Gardinen vor den Fenstern und deswegen einen anderen Begriff von „Privatsphäre“ haben. Der Fall Heinrich Boere ist noch nicht abgeschlossen.

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