12.05.2011
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Nazi-Scherge Demjanjuk: zu schwach für die Haft?

Der Kopf gesenkt, das Basecap tief ins Gesicht gezogen, die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. So zeigte sich John Demjanjuk (91) am Donnerstagmorgen im Landgericht München – vor der Urteilsverkündung. Als klar war, dass er den Gerichtssaal als freier Mann verlassen darf, zeigte der Nazi-Scherge sein anderes Gesicht...

München – Das Urteil gegen John Demjanjuk ist gefällt: Der KZ-Scherge ist der Beihilfe zum Mord in 28 060 Fällen schuldig. Seine Strafe: fünf Jahre Haft. Aber ins Gefängnis muss er trotzdem nicht!

Die Staatsanwaltschaft hatte sechs Jahre Haft gefordert, die Verteidigung Freispruch. Trotz seiner Verurteilung wird Demjanjuk aus dem Gefängnis entlassen! Richter Ralph Alt: „Der Angeklagte ist frei zu lassen.“ Nach genau zwei Jahren in Untersuchungshaft in München sei eine weitere Zeit im Gefängnis für den 91-Jährigen nicht verhältnismäßig.

Während Demjanjuk den Schuldspruch ohne sichtbare Regung verfolgte, konnten viele Nebenkläger ihre Tränen nicht zurückhalten.

Demjanjuk nahm das Urteil in seinem Rollstuhl sitzend entgegen. Die Urteilsbegründung hörte er in einem Bett liegend an. Seine Augen hatte er wie stets hinter einer Sonnenbrille verborgen.

Als er das Gericht verlassen durfte, hob der Nazi-Handlanger sein Haupt. Der gebrechliche, alte Mann schien urplötzlich wieder ein rüstiger Rentner zu sein. Ohne Mütze und Sonnenbrille, den Kopf nach oben gereckt, blickte er fest geradeaus.

Die Aufhebung des Haftbefehls begründete Richter Alt damit, dass Demjanjuk nach der Aberkennung der US-Staatsbürgerschaft staatenlos sei. Es bestehe deshalb keine Fluchtgefahr mehr.

Möglicherweise käme Demjanjuk dann doch wieder hinter Gitter – sofern er noch haftfähig wäre. Allerdings müsste auf die Haftstrafe die Dauer der Untersuchungshaft angerechnet werden.

Der 91-Jährige ließ sich für die Nacht zum Freitag noch einmal in das Untersuchungsgefängnis zurückbringen. Danach müssen die Behörden für ihn möglicherweise ein Altenheim suchen.

Ein Dutzend von mehr als 30 Nebenklägern war für das Urteil aus den Niederlanden angereist. Sie haben im Vernichtungslager Sobibor teils ihre gesamte Familie verloren. Einige haben in persönlichen Schlussvorträgen das Gericht eindringlich aufgefordert, Demjanjuk schuldig zu sprechen. Das Strafmaß war den meisten dabei nicht wichtig. Ihnen ging es um Wahrheit und Gerechtigkeit.

Mit Erleichterung nahmen sie das Urteil auf. Rob Fransmann (69), der in Sobibor beide Eltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen verloren hatte: „Demjanjuk hat gelernt, sein Leben mit einer Lüge zu leben. Jetzt ist er doch bestraft worden.“

Jan Goedel (71), dessen Eltern ebenfalls beide in Sobibor ermordet wurden, fügte an: „Jetzt ist dieses Kapitel endlich geschlossen.“

Auch das israelische Wiesenthal-Zentrum begrüßte die Verurteilung. Efraim Zuroff, der Leiter der Einrichtung in Jerusalem: „Wir sind sehr zufrieden darüber, dass Demjanjuk endlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.”

Die Entscheidung bedeute eine „sehr starke Botschaft, dass die Täter auch viele Jahre nach den Verbrechen des Holocaust noch für ihre Vergehen belangt werden können”.

Möglicherweise war es das letzte Mal, dass einem Nazi-Kriegsverbrecher in Deutschland der Prozess gemacht wurde.

Das Urteil steht am Ende eines wahren Mammut-Prozesses: Die Richter wogen Beweise und Argumente aus 92 Verhandlungstagen ab. Alleine das Plädoyer der Verteidigung nahm fünf Tage in Anspruch.

Das wichtigste Beweisstück der Anklage: ein Dienstausweis, auf dem unter Foto, Namen und Geburtsdaten Demjanjuks steht: „Abkommandiert am 27.3.43 zu Sobibor”. Experten haben das Dokument als echt eingestuft.

Im Vernichtungslager Sobibor im Osten Polens brachten Nazi-Schergen insgesamt rund 150 000 bis 250 000 Menschen um.

Die Vorwürfe gegen den aus der Ukraine stammenden Demjanjuk: Nachdem er als Rotarmist im Mai 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, ließ er sich als so genannter Hilfswilliger in den Dienst der SS stellen. Von März bis September 1943 soll er als KZ-Wächter in Sobibor tätig gewesen sein.

In dieser Zeit starben dort etwa 28 000 Menschen, darunter besonders viele niederländische Juden.

Deutliche Worte in Richtung Demjanjuk fand Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz (41) in seinem Plädoyer: „Er hat sich die rassenideologischen Ziele der Nazis zu eigen gemacht. Das ergibt sich daraus, dass keine Bemühungen erkennbar sind, sich der Tätigkeit zu entziehen.“

Und weiter: „Die Opfer in Sobibor wurden grausam und heimtückisch in den Gaskammern ermordet. Daran waren alle der rund 150 Wachmänner in dem Lager beteiligt.“

Auch wenn Demjanjuk keine konkreten Taten bewiesen werden könnten: Jeder Angehörige des Wachpersonals sei an dem routinemäßigen Tötungsvorgang beteiligt gewesen.

Lutz: „Wer Schuld in derart hohem Maß auf sich geladen hat, muss bestraft werden, auch nach 60 Jahren und in so hohem Alter.“

Nach dem Krieg war Demjanjuk in die USA ausgewandert, hatte die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangt.

In den 80er-Jahren stand er bereits einmal wegen Nazi-Kriegsverbrechen vor Gericht. Die USA hatten ihn 1986 nach Israel ausgeliefert, wo er 1988 zum Tode verurteilt wurde.

In einem Berufungsverfahren wurde das Urteil 1993 aufgehoben, Demjanjuk freigesprochen. Er war – vermutlich aufgrund einer Verwechslung – für den KZ-Wächter „Iwan der Schreckliche“ gehalten worden, der in Treblinka Angst und Schrecken verbreitet hatte. Bewiesen werden konnte das jedoch nicht, die Richter äußerten im Berufungsverfahren „begründete Zweifel“.

Nach dem Freispruch kehrte Demjanjuk in die USA zurück, obwohl das Gericht annahm, dass Demjanjuk in Sobibor Aufseher war. Wegen seiner Taten dort war er aber nicht angeklagt und auch nicht ausgeliefert worden.

Im Mai 2009 lieferten die USA Demjanjuk schließlich nach Deutschland aus, wo ihm wegen der Verbrechen in Sobibor der Prozess gemacht wurde.

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