Der
Kopf gesenkt, das Basecap tief ins Gesicht gezogen, die Augen
hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. So zeigte sich
John Demjanjuk (91) am Donnerstagmorgen im Landgericht München
– vor der Urteilsverkündung. Als klar war, dass er den Gerichtssaal
als freier Mann verlassen darf, zeigte der Nazi-Scherge sein
anderes Gesicht...
München – Das Urteil gegen John Demjanjuk ist gefällt: Der KZ-Scherge ist der
Beihilfe zum Mord
in 28 060 Fällen
schuldig. Seine
Strafe: fünf Jahre
Haft. Aber ins
Gefängnis muss
er trotzdem nicht!
Die
Staatsanwaltschaft
hatte sechs Jahre
Haft gefordert,
die Verteidigung
Freispruch. Trotz
seiner Verurteilung
wird Demjanjuk
aus dem Gefängnis
entlassen! Richter
Ralph Alt: „Der
Angeklagte ist
frei zu lassen.“
Nach genau zwei
Jahren in Untersuchungshaft
in München sei
eine weitere Zeit
im Gefängnis für
den 91-Jährigen
nicht verhältnismäßig.
Während
Demjanjuk den Schuldspruch
ohne sichtbare
Regung verfolgte,
konnten viele Nebenkläger
ihre Tränen nicht
zurückhalten.
Demjanjuk
nahm das Urteil
in seinem Rollstuhl
sitzend entgegen.
Die Urteilsbegründung
hörte er in einem
Bett liegend an.
Seine Augen hatte
er wie stets hinter
einer Sonnenbrille
verborgen.
Als er das Gericht verlassen durfte, hob der Nazi-Handlanger sein Haupt. Der
gebrechliche, alte
Mann schien urplötzlich
wieder ein rüstiger
Rentner zu sein.
Ohne Mütze und
Sonnenbrille, den
Kopf nach oben
gereckt, blickte
er fest geradeaus.
Die Aufhebung des Haftbefehls begründete Richter Alt damit, dass Demjanjuk nach
der Aberkennung
der US-Staatsbürgerschaft
staatenlos sei.
Es bestehe deshalb
keine Fluchtgefahr
mehr.
Möglicherweise
käme Demjanjuk
dann doch wieder
hinter Gitter –
sofern er noch
haftfähig wäre.
Allerdings müsste
auf die Haftstrafe
die Dauer der Untersuchungshaft
angerechnet werden.
Der
91-Jährige ließ
sich für die Nacht
zum Freitag noch
einmal in das Untersuchungsgefängnis
zurückbringen.
Danach müssen die
Behörden für ihn
möglicherweise
ein Altenheim suchen.
Ein
Dutzend von mehr
als 30 Nebenklägern
war für das Urteil
aus den Niederlanden
angereist. Sie
haben im Vernichtungslager
Sobibor teils ihre
gesamte Familie
verloren. Einige
haben in persönlichen
Schlussvorträgen
das Gericht eindringlich
aufgefordert, Demjanjuk
schuldig zu sprechen.
Das Strafmaß war
den meisten dabei
nicht wichtig.
Ihnen ging es um
Wahrheit und Gerechtigkeit.
Mit
Erleichterung nahmen
sie das Urteil
auf. Rob Fransmann
(69), der in Sobibor
beide Eltern, Onkel,
Tanten, Cousins
und Cousinen verloren
hatte: „Demjanjuk
hat gelernt, sein
Leben mit einer
Lüge zu leben.
Jetzt ist er doch
bestraft worden.“
Jan
Goedel (71), dessen
Eltern ebenfalls
beide in Sobibor
ermordet wurden,
fügte an: „Jetzt
ist dieses Kapitel
endlich geschlossen.“
Auch
das israelische
Wiesenthal-Zentrum
begrüßte die Verurteilung.
Efraim Zuroff,
der Leiter der
Einrichtung in
Jerusalem: „Wir
sind sehr zufrieden
darüber, dass Demjanjuk
endlich zu einer
Gefängnisstrafe
verurteilt wurde.”
Die
Entscheidung bedeute
eine „sehr starke
Botschaft, dass
die Täter auch
viele Jahre nach
den Verbrechen
des Holocaust noch
für ihre Vergehen
belangt werden
können”.
Möglicherweise
war es das letzte
Mal, dass einem
Nazi-Kriegsverbrecher
in Deutschland
der Prozess gemacht
wurde.
Das
Urteil steht am
Ende eines wahren
Mammut-Prozesses:
Die Richter wogen
Beweise und Argumente
aus 92 Verhandlungstagen
ab. Alleine das
Plädoyer der Verteidigung
nahm fünf Tage
in Anspruch.
Das
wichtigste Beweisstück
der Anklage: ein
Dienstausweis,
auf dem unter Foto,
Namen und Geburtsdaten
Demjanjuks steht:
„Abkommandiert
am 27.3.43 zu Sobibor”.
Experten haben
das Dokument als
echt eingestuft.
Im
Vernichtungslager
Sobibor im Osten
Polens brachten
Nazi-Schergen insgesamt
rund 150 000 bis
250 000 Menschen
um.
Die
Vorwürfe gegen
den aus der Ukraine
stammenden Demjanjuk:
Nachdem er als
Rotarmist im Mai
1942 in deutsche
Kriegsgefangenschaft
geriet, ließ er
sich als so genannter
Hilfswilliger in
den Dienst der
SS stellen. Von
März bis September
1943 soll er als
KZ-Wächter in Sobibor
tätig gewesen sein.
In
dieser Zeit starben
dort etwa 28 000
Menschen, darunter
besonders viele
niederländische
Juden.
Deutliche
Worte in Richtung
Demjanjuk fand
Staatsanwalt Hans-Joachim
Lutz (41) in seinem
Plädoyer: „Er hat
sich die rassenideologischen
Ziele der Nazis
zu eigen gemacht.
Das ergibt sich
daraus, dass keine
Bemühungen erkennbar
sind, sich der
Tätigkeit zu entziehen.“
Und weiter: „Die Opfer in Sobibor wurden grausam und heimtückisch in den Gaskammern
ermordet. Daran
waren alle der
rund 150 Wachmänner
in dem Lager beteiligt.“
Auch wenn Demjanjuk keine konkreten Taten bewiesen werden könnten: Jeder Angehörige
des Wachpersonals
sei an dem routinemäßigen
Tötungsvorgang
beteiligt gewesen.
Lutz:
„Wer Schuld in
derart hohem Maß
auf sich geladen
hat, muss bestraft
werden, auch nach
60 Jahren und in
so hohem Alter.“
Nach
dem Krieg war Demjanjuk
in die USA ausgewandert,
hatte die amerikanische
Staatsbürgerschaft
erlangt.
In
den 80er-Jahren
stand er bereits
einmal wegen Nazi-Kriegsverbrechen
vor Gericht. Die
USA hatten ihn
1986 nach Israel
ausgeliefert, wo
er 1988 zum Tode
verurteilt wurde.
In
einem Berufungsverfahren
wurde das Urteil
1993 aufgehoben,
Demjanjuk freigesprochen.
Er war – vermutlich
aufgrund einer
Verwechslung –
für den KZ-Wächter
„Iwan der Schreckliche“
gehalten worden,
der in Treblinka
Angst und Schrecken
verbreitet hatte.
Bewiesen werden
konnte das jedoch
nicht, die Richter
äußerten im Berufungsverfahren
„begründete Zweifel“.
Nach
dem Freispruch
kehrte Demjanjuk
in die USA zurück,
obwohl das Gericht
annahm, dass Demjanjuk
in Sobibor Aufseher
war. Wegen seiner
Taten dort war
er aber nicht angeklagt
und auch nicht
ausgeliefert worden.
Im
Mai 2009 lieferten
die USA Demjanjuk
schließlich nach
Deutschland aus,
wo ihm wegen der
Verbrechen in Sobibor
der Prozess gemacht
wurde.
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