25.11.2010 10:18 Uhr augsburger-allgemeine.de
Demjanjuk-Prozess: "Ich glaube, der Angeklagte schläft"

Seit einem Jahr verhandelt das Münchner Landgericht gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk. Eine Verurteilung des 90-Jährigen würde eine Wende in der Rechtsprechung bedeuten.

Hochbetagte Zeugen, Stapel vergilbter Dokumente, stundenlange Erläuterungen von Historikern, und immer wieder Antragsserien der Verteidigung: Seit einem Jahr versucht das Landgericht München II die mögliche Beteiligung des gebürtigen Ukrainers John Demjanjuk am Massenmord der Nazis zu klären. Der 90-Jährige soll als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor 1943 von März bis September bei der Ermordung von 27 900 Juden in den Gaskammern geholfen haben.

Gerade hat das Gericht neue Termine bis 2. März 2011 angesetzt. Ob das reicht, ist ebenso offen wie der Ausgang des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft ist weiter von der Richtigkeit ihrer Anklage überzeugt, für die Verteidigung ist der Freispruch das einzig mögliche Prozessergebnis.

Journalisten sowie hochbetagte Opfer-Angehörige und Holocaust-Überlebende aus aller Welt waren zum Prozessauftakt am 30. November 2009 angereist. «Ich suche nicht Rache wegen damals, ich will, dass er die Wahrheit sagt», sagte der 83-jährige Sobibor-Überlebende und Nebenkläger Thomas Blatt, der in den USA lebt und Eltern und Bruder verlor.

Es dürfte nicht nur einer der letzten NS-Verbrecher-Prozesse sein. Eine Verurteilung würde auch einen Paradigmenwechsel in der deutschen Rechtsprechung bedeuten. Denn es gibt keinen Zeugen, der Demjanjuk bei einer bestimmten Tat beobachtet hätte, und keine Beweise für eine konkrete Einzeltat.

Demjanjuk, als Rotarmist in deutsche Gefangenschaft geraten, soll die Ausbildung im SS-Lager Trawinki gewählt und dann Wachmann unter anderem im Vernichtungslager Sobibor gewesen sein.

Wer dort arbeitete - etwa 25 SS-Leute und 100 meist ukrainische Hilfswillige - habe keine andere Aufgabe gehabt, als bei der Ermordung der verschleppten Männer, Frauen und Kinder zu helfen, argumentiert die Anklage. Allein Demjanjuks Anwesenheit in Sobibor, die unter anderem ein Dienstausweis belege, begründe somit seine Schuld.

Das sah die Justiz in den 1960er Jahren anders. Damals kamen im sogenannten Sobibor-Prozess deutsche SS-Männer und Vorgesetzte der Trawniki teils sogar mit Freispruch davon. Während sie sich erfolgreich darauf beriefen, auf Befehl von oben gehandelt zu haben, soll Demjanjuk als Wachmann im untersten Dienstgrad nun für den Massenmord Verantwortung übernehmen.

Auch andere Helfershelfer will die Justiz 65 Jahre nach Kriegsende zur Rechenschaft ziehen. Ermittlungen laufen gegen einen 93-jährigen früheren Trawniki, der in Landshut lebt und an der Erschießung von Juden im Zwangsarbeiterlager Treblinka beteiligt gewesen sein soll. Ermittelt wird auch gegen einen in den USA lebenden ukrainischstämmigen Ex-Hilfspolizisten wegen Erschießungen im besetzten polnischen Lemberg. In Bonn war der mutmaßliche Wachmann im Vernichtungslager Belzec, Samuel Kunz, bereits wegen zehnfachen Mordes und Beihilfe in 430 000 Fällen angeklagt. Doch der 89-Jährige starb vergangene Woche - bevor der Prozess begann.

Seit den 1970er Jahren war Demjanjuk mehrfach wegen möglicher NS-Verbrechen ins Visier der amerikanischen, israelischen und - seit 2008 - deutschen Justiz geraten. Etwa neun Jahre verbrachte er in Haft, fünf davon in der Todeszelle in Israel wegen hunderttausender Morde als «Iwan der Schreckliche» in Treblinka - doch am Ende wurde er freigesprochen. Er war verwechselt worden.

Zu den Vorwürfen in München hat sich Demjanjuk nicht geäußert. Zweimal gab er Erklärungen ab - ohne freilich darauf einzugehen, ob er überhaupt je Wachmann bei den Nazis war. Erst vergangene Woche bezichtigte er Nebenklägern zufolge die Richter indirekt der Rechtsbeugung. Andere Beobachter wunderten sich über die ausgefeilte, auf ukrainisch offenbar am Computer verfasste Erklärung des kranken und akademisch nicht gebildeten Angeklagten. Im April hatte er erklärt, in der Untersuchungshaft erlebe er die Zeit «als Kriegsgefangener Deutschlands». Den Prozess empfinde er als «Folter und Tortur».

Demjanjuk, der an starken Rückenschmerzen und einer Blutkrankheit leidet, nimmt in einem Rollbett am Prozess teil. Dazu trägt er eine Sonnenbrille und eine Kappe. Manchmal klappt die Kinnlade auf und nieder. «Entschuldigung Herr Vorsitzender! Ich glaube, der Angeklagte schläft», unterbrach kürzlich Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz die Verhandlung. Der Vorsitzende Ralph Alt schloss daraufhin die Sitzung für die Mittagspause. Wegen Demjanjuks schlechter Gesundheit darf ohnehin nur maximal zweimal 90 Minuten pro Tag verhandelt werden.

Wie schlecht es ihm wirklich geht, ist unklar. Laut dem prozessbegleitenden Arzt Albrecht Stein hat sich sein Zustand seit der Abschiebung aus den USA im Mai 2009 nicht verschlechtert. Allerdings belaste die lange Untersuchungshaft ihn zunehmend psychisch. «Er ist in der Stimmung etwas gedrückt.»

Verteidiger Busch hingegen sagt, es gehe Demjanjuk «wesentlich schlechter als im vorigen Jahr». Er leide fernab seiner in den USA lebenden Verwandten auch unter Vereinsamung, sagt Busch, der stets eine lange Prozessdauer vorhersagte und zeitaufwändige Anträge stellte. «Die Länge des Prozesses ist für so einen alten Mann nicht mehr tragbar.»

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