17. März 2010, 04:00 Uhr
welt.de
Das verzweifelte Anrennen gegen die Zeit
Von Hannelore Crolly

Heinrich Boere gehörte einem SS-Killerkommando an und steht wegen dreifachen Mordes vor Gericht - Einer der letzten deutschen NS-Prozesse geht zu Ende

Aachen - Die holländischen Journalisten, die seit Monaten jedes Mal anreisen, wenn das Aachener Landgericht zu einem der wohl letzten deutschen NS-Prozesse tagt, nennen ihn schmunzelnd den "Flüsterer". Der Mittdreißiger Matthias Rahmlow, ein promovierter, schicker Jurist mit langen Gel-Locken, gehört zum Verteidigerteam des 88-jährigen Heinrich Boere, jenes früheren Mitglieds eines SS-Killerkommandos, dem seit Oktober wegen dreifachen Mordes an niederländischen Zivilisten der Prozess gemacht wird. Selbst beim Schlussplädoyer, seinem wohl wichtigsten Auftritt im gesamten Verfahren, spricht Anwalt Rahmlow trotz Mikrofon so leise, dass man ihn manchmal kaum versteht.

Doch nicht allein deshalb herrscht im Sitzungssaal A020 an diesem Morgen atemlose Stille. Es sind vor allem die überraschenden Argumente, mit denen die Verteidigung die Einstellung des Verfahrens erzwingen will oder zumindest eine milde Strafe von höchstens sieben Jahren Haft für den 88-Jährigen. Die Staatsanwaltschaft dagegen hatte wegen dreifachen Mordes "je eine lebenslange Haftstrafe" gefordert. Am 23. März will das Gericht sein Urteil verkünden.

Das Verfahren gegen Boere gehört wie der Münchner Prozess gegen den KZ-Wächter John Demjanjuk zu den letzten Versuchen einer Abrechnung der deutschen Justiz mit dem Massenmord. Die Prozesse wirken wie das verzweifelte Anrennen gegen die Zeit, bevor die letzten Opfer, Täter und Zeugen gestorben sind. Die Justiz, die sich jahrzehntelang so schwertat mit der Aufarbeitung des Holocaust und nun endlich ihre Versäumnisse der Nachkriegszeit öffentlich reflektiert, will schnell noch so viel Recht sprechen wie möglich, auch über die Taten der Handlanger, des "Fußvolks der Vernichtung", wie es der Historiker Klaus-Michael Mallmann einmal nannte.

Doch Boeres Prozess zeigt exemplarisch, wie problematisch das Vorhaben in vieler Hinsicht ist. Zuerst konnte das Verfahren wochenlang nicht eröffnet werden, weil es dem herzkranken Rentner, der ohne Familienanhang in einem Altersheim lebt, gesundheitlich schlecht ging. Dann musste ihm auf Gerichtskosten ein Hörgerät angepasst werden. Schließlich, im Prozess selbst, konnte nur noch ein einziger lebender Zeuge gefunden und vernommen werden - und das auch nur per Videokonferenz. Ansonsten musste sich das Gericht mit vorgelesenen Verhören und Protokollen der Nachkriegszeit begnügen. Ihn habe dabei so manche Frage auf den Lippen gebrannt, sagte Verteidiger Rahmlow jetzt. "Wir konnten nicht durch Zeugen erfahren, welche Stimmung damals wirklich herrschte." Daher sei es schwer, 66 Jahre später noch ein angemessenes Urteil zu fällen.

Boere, Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters, hat nie bestritten, mit einem Komplizen im Juli und September 1944 drei Männer in den Niederlanden erschossen zu haben. Die Morde waren Teil einer SS-Aktion unter dem Decknamen "Silbertanne", die während der Zeit der deutschen Besatzung Widerstandskämpfer aus dem Weg räumen sollte. Er dachte, er strafe "Terroristen" ab, gab Boere im Prozess zu Protokoll. Er habe sich im Recht gefühlt. Heute sehe er die Sache natürlich "aus einer anderen Perspektive".

Wohl auch wegen dieser Aussage beriefen sich Rahmlow und sein Anwaltskollege Gordon Christiansen nicht auf den sogenannten Befehlsnotstand, mit dem so viele Täter der NS-Zeit wie auch Demjanjuk ihre Taten zu entschuldigen versuchten. Offenbar sah es selbst die Verteidigung nicht als bewiesen an, dass Boere als SS-Sturmmann tatsächlich schlimme Konsequenzen für Leib und Leben gedroht hätten, wenn er den Auftrag zum Töten missachtet hätte. Stattdessen führen die Anwälte eine ganze Armada von Argumenten zur Entlastung ins Feld - angefangen damit, dass Boere bereits 1947 für die Morde in Amsterdam verurteilt worden sei und nicht doppelt bestraft werden dürfe. Zwar wurde das Urteil nie vollstreckt, weil Boere geflohen war und Deutschland ihn nicht ausliefern wollte. Aber das, so die Anwälte, sei nicht relevant.

Neben dem hohen Alter von Boere und seiner angeschlagenen Gesundheit verwiesen die Verteidiger überdies eindringlich auf die Tatsache, dass die "Tatvorwürfe unglaublich lange" zurücklägen: "Eine Person nach 66 Jahren ist nicht mehr die Person, die damals die Tat begangen hat." Selbst eine Art formaler Entschuldigung führte Rahmlow ins Feld: Das damals herrschende Völkerrecht habe gerechtfertigt, Geiseln zu erschießen. "Alle drei Personen hätten unter bestimmten Umständen also rechtmäßig erschossen worden sein können." So habe es bei der Exekution durch Boere also im Prinzip lediglich "an formellen Dingen gefehlt".

Der Beschuldigte selbst, an diesem Tag in einen beigefarbenen Pullover mit braunen und weißen Streifen gekleidet, verfolgte die gut zweistündigen Plädoyers zwar reglos im Rollstuhl, wirkte aber durchaus alert und rüstig. Dabei hatte Boere, der nach dem Krieg sieben Jahre lang in den Niederlanden untergetaucht war und seit 1953 in Deutschland lebt, mehrfach versucht, die Verfahrenseröffnung mit Verweis auf sein schwaches Herz und seine kaputten Nieren zu verhindern.

Das Gericht wies den Antrag jedoch stets zurück und stellte dem Beklagten lediglich eine Ärztin zur Seite. Bisher lebt der Rentner, der bis zu seiner Pensionierung als Bergmann gearbeitet hatte, noch im Altersheim, doch Staatsanwalt Ulrich Maaß hat Antrag auf Haftbefehl gestellt. Auch darüber wird das Gericht in seinem Urteil zu befinden haben.

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