Freitag, 04. Dezember 2009
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Der Mörder und seine Beschützer

Die Killer kamen spät am Abend. Sie klingelten bei ihren Opfern und stellten die Personalien fest: "Sind Sie Fritz Hubertus Bicknese?" Dann schossen sie. Einer der Täter war Heinrich Boere. Er gehörte 1944 in den Niederlanden als Mitglied der "Germanischen SS" dem Terrorkommando Feldmeijer an. Drei Zivilisten hat Boere auf vergleichbare Weise kaltblütig hingerichtet. Die blindwütigen Racheakte gegen vermeintliche Widerständler – was alle drei Opfer nicht waren – hat Boere nie geleugnet. Er hat sie sogar einmal mit martialischen Worten bestätigt: "Ja, ich hab’ die weggemacht."

Mit mehr als 65 Jahren Verspätung muss sich der Mann in Aachen vor Gericht verantworten. Ein Biedermann im Rollstuhl sitzt da hinter einer spanischen Wand aus Panzerglas. Ein Mann von kräftiger Statur, er trägt kurze Haare, Brille, Freizeithose, dazu Sandalen mit dicken Wollsocken. Der rechte Ringfinger ist mit einem Blutdruck-Messgerät verbunden. Herzschwächen, heißt es. Ein Arzt sitzt immer dabei.

Heinrich Boere, Vater Niederländer, Mutter Deutsche, 88 Jahre alt, war zwei, als seine ärmliche Familie aus dem Aachener Umland in Vaters Heimat in der Nähe von Maastricht zieht. Mühsam schlägt man sich durch, der Vater ein Tunichts, der von Stütze lebt. "Wir hatten nichts", erklärt er dem Gericht, "un dat in einem der reichsten Länder van de Welt." Boere redet in rheinischem Singsang mit starkem holländischem Akzent.

Die Anklage sagt, was geschehen sei, sei Mord in drei Fällen. Dann bekäme Boere lebenslang. Oder war es Totschlag, war Boere ein naiver Befehlsempfänger? Dann wären die Taten verjährt und er könnte zurück in seine Seniorenresidenz "Meerblick", Appartment 133. Und dort "fernsehen und auf den Tod warten", wie der Angeklagte selbstgefällig sagt.

Quasi zufällig will Boere 1940 im besetzten Holland auf die Waffen-SS aufmerksam geworden sein. Nach zwei Jahren Dienstverpflichtung war ihm eine zivile Weiterbeschäftigung garantiert, ein verlockendes Angebot für den jungen Mann. Außerdem habe es die deutsche Mutter gut gefunden. "Se komme", habe sie freudig im Mai 1940 gesagt, als die deutschen Panzer draußen anrollten.

Als Boere vor Gericht dann seine Jahre an der Ostfront in der berüchtigten SS-Division Wiking streift, schnellt sein Blutdruck von den üblich niedrigen 100 auf 140 hoch. Den Rekord schafft er bei einer Banalität: Im SS-Ausbildungslager in München habe es zwischen deutschen und niederländischen Freiwilligen "ein Länderspiel gegeben im Fußball". Wer gewonnen habe? "Die Holländer." Das Blutdruck-Kästchen zeigt plötzlich 145.
Prozess in Aachen: Demonstranten fürchten juristische Tricks im Prozess gegen Heinrich Boere.

Der niederländische Familienname wird "Bure" ausgesprochen. Nur der Angeklagte und sein Anwalt sagen immer betont deutsch "Böre". "Ich bin Deutscher", sagt Böre-Bure bockig bei der Befragung zur Person, "auch wenn in meinem Pass staatenlos vermerkt ist." Warum er nie verheiratet war? "Ich musste doch ständig damit rechnen, dass mich die Vergangenheit einholt. Das wollte ich keiner Frau zumuten." Und gute Freunde? Nein, höchstens im Heim "der Herr Blüm, der war auch bei der SS".

1945 war Boere in Holland in Lagergefangenschaft gekommen. Listig gelang ihm die Flucht. 1949 wurde er in Amsterdam in Abwesenheit zum Tode verurteilt, später wurde diese Strafe umgewandelt in lebenslange Haft. Boere blieb verschollen. Ende 1954 taucht er wieder in seinem Geburtsort Eschweiler bei Aachen auf. Erste Tat: ein Antrag auf Kriegsgefangenenentschädigung, der wurde abgelehnt. Danach lebt Boere mehr als ein halbes Jahrhundert unbehelligt in Eschweiler, immer unter seinem Namen, erst als Bergmann, seit 1976 als Frühpensionär.

Erst 1980 erfuhr die niederländische Justiz von seiner Existenz und beantragte die Auslieferung. Das Oberlandesgericht Köln lehnte ab – mit Hinweis auf einen Erlass Hitlers, wonach deutschstämmige Ausländer bei freiwilliger SS-Mitgliedschaft als Deutsche gelten. Und Deutschland liefert Deutsche nicht aus. Anklage hierzulande? Nein! Denn die Erschießungen Unbeteiligter seien im Krieg mutmaßlich rechtmäßige Repressalien gewesen – und falls nicht, handelten die Täter womöglich im Verbotsirrtum. Boere durfte sich über deutsche Strafverfolgungsbehörden als Strafverhinderer freuen.

Wieder gingen Jahrzehnte ins Land. Erst seit 2003 kann ein Urteil wie das aus Amsterdam auch in anderen EU-Staaten vollstreckt werden. Das beantragte die holländische Justiz. Vier Jahre brauchte das Aachener Landgericht zur Zustimmung. Doch das OLG Köln kam Boere wieder zur Hilfe: Er habe sich 1949 in Amsterdam nicht angemessen verteidigen und keine Rechtsmittel einlegen können. Wie auch, aus dem Versteck?

Erst der neue Leiter der Dortmunder Zentralstelle für NS-Verbrechen, Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß, klagte Heinrich Boere 2008 an. Daraufhin suchten Boeres Anwälte bis zum Bundesverfassungsgericht Hilfe, um eine altersbedingte Verhandlungsunfähigkeit festzustellen. Erfolglos. Ende Oktober begann der Prozess vor dem Landgericht Aachen – und die juristischen Scharmützel gingen nun erst richtig los: Anträge auf Befangenheit des Anklägers und auf Nichtzuständigkeit des Gerichts. Dann erstritten die Verteidiger ein Hörgerät für den Angeklagten. Der wollte nämlich plötzlich nichts mehr verstanden haben. Wieder platzten zwei Termine, dann musste die Anklage neu verlesen werden. War das alles nur Ergebnis der Selbstdarstellung der Anwälte oder Teil einer Farce?

Es kam der Dienstag, der 1.12. Betont wichtig erklären Boeres Anwälte: "Ab heute gilt der Vertrag von Lissabon", um dann in einem halbstündigen Vortrag darzulegen, warum eine weitere Verfolgung Boeres auf eine europäisch widerrechtliche Doppelbestrafung zulaufe. Denn in der EU-Grundrechtecharta ("gültiges Recht ab heute") stehe nicht mehr, dass ein Urteil vollstreckt sein müsse, um von einer Doppelverfolgung zu sprechen. Also sei das Verfahren umgehend per Prozessurteil einzustellen! Boere lächelt.

Ein Prozessende würde europäische Rechtsgeschichte schreiben. Das Gericht ist vorsichtig und vertagte wieder. Gestern die Widerreden. Die Nebenklage führte an: Früher sei ein geständiger SS-Mann wegen eines angeblich mangelhaften Urteils vor der holländischen Justiz geschützt worden, jetzt soll alles mangelfrei erklärt werden, um ihn vor der deutschen Justiz zu schützen? "Dies käme einer Strafvereitelung gleich." Ankläger Maaß sagt: "Wir stehen bei all den Anträgen doof dabei und können nur warten." Dass der Vollstreckungvorbehalt nicht mehr erwähnt sei in der EU-Charta, beruht für Maaß auf einem Versehen: "Solch komplizierte Ausnahmefälle wie bei Boere hat die Politik nicht bedacht."

Der Anwalt der Nebenkläger, der die Nachkommen der Opfer vertritt, berichtete dem Gericht von Erkenntnissen aus dem Urteil von 1949, dass Boere "ein überzeugter Kämpfer war, der mit Eifer seinen Aufgaben nachging". Auch habe er als Spitzel gearbeitet. Als Gasableser habe er die Häuser von Maastricht ausgekundschaftet und so mindestens 60 versteckte niederländische Juden ans Messer geliefert. Die sind dann womöglich in Iwan Demjanjuks Vernichtungslager nach Sobibor gekommen.

"Meine Gemütsverfassung ob der Verzögerungstaktik der Verteidiger gerät in ein neues Stadium", verrät der Anwalt. "Meine Mandanten in Holland sind sehr betreten und fassungslos. Das Gericht soll sich nicht selbst an der Nase herumführen." Vom Gerichtssaal nach Vaals sind es gerade einmal sechs Kilometer. Würde sich der Angeklagte dort zeigen, er würde sofort verhaftet.

Für Dienstag hat die Verteidigung neue Anträge angekündigt – auf außergerichtliche Rechtsgutachten und eine Vorab-Klärung des Europäischen Gerichtshofs. Jahre würden ins Land gehen. Boeres Blutdruck blieb gestern konstant bei 105.

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