1. Dezember 2009, 04:00 Uhr welt.de
Er ließ sich liegend in den Saal rollen
Von Gerhard Gnauck und Peter Issig

München - Es war totenstill, als John Demjanjuk gestern in den Verhandlungssaal des Landgerichts München II geschoben wurde. Alle waren versammelt, die Richter, der Staatsanwalt, ein Holocaust-Überlebender als Nebenkläger, im Zuschauerraum Angehörige von Opfern, Vertreter von Opferverbänden, Dutzende von Journalisten. Und dann das: Ein regloser Körper wird in einem schräg gestellten Rollstuhl mit Kopfstütze langsam in den Saal gerollt. Der Angeklagte liegt unter hellblauen Kunststoffdecken, die zunächst an Müllsäcke denken lassen. Auf dem Kopf trägt Demjanjuk eine Baseballmütze. Anhaltendes Blitzlichtgewitter.

Mit dieser Szene begann gestern der möglicherweise letzte Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Gewaltverbrecher, doch zugleich der erste in Deutschland gegen einen Ausländer, dem diese Taten zur Last gelegt werden. Der als Iwan Demjanjuk 1920 in der sowjetischen Ukraine geborene Mann soll laut Anklage als Wachmann (sogenannter "Trawniki-Mann") im Vernichtungslager Sobibor 1943 Beihilfe zum Mord an 27 900 Juden geleistet haben. 1952 war Demjanjuk in die USA ausgewandert. 1987 wurde er in Israel (offenbar aufgrund einer Verwechslung) zum Tode verurteilt, 1993 aufgrund von Zweifeln an diesem ersten Urteil freigelassen und im Mai 2009 abermals von den USA ausgeliefert, diesmal nach Deutschland.

Der Vorsitzende Richter Ralph Alt eröffnete die Verhandlung - aufgrund des Andrangs gut eine Stunde verspätet - mit den Worten "Ich wünsche allen einen guten Tag". Der Richter kam jedoch nicht weit. Ulrich Busch, der Wahlverteidiger, nahm das Heft in die Hand und beantragte, die Richter für befangen zu erklären. Er verlas einen umfangreichen Antrag, in dem hin und wieder die Formel "die historische Wahrheit" aufblitzte. Darin schilderte er die Umstände, unter denen Leute wie Demjanjuk 1943, als sie als kriegsgefangene Rotarmisten in deutschen Lagern saßen, zu SS-Hilfsdiensten "zwangsrekrutiert" und "unter Todesdrohung" zum Dienst gepresst worden seien.

Vor allem widmete sich Busch der Frage, warum ein Ausländer, der beim Holocaust als "Untermensch" die "Drecksarbeit" geleistet habe, belangt werde, während viele deutsche SS-Leute im selben Lager - wie im Sobibor-Prozess 1966 in Hagen - freigesprochen worden seien.

"Setzt nicht Beihilfe einen Haupttäter und eine Haupttat voraus?", fragte der Anwalt. Manche der deutschen Vorgesetzten seien wegen Putativnotwehr freigesprochen worden. Busch kritisierte, dass Demjanjuk aus den USA geholt worden sei, während die "Trawniki"-Wachleute Kunz und Nagorny, die Schlimmeres als Demjanjuk getan hätten, "seit 65 Jahren unbehelligt in Deutschland leben". Dennoch sei Kunz vom Münchener Gericht als Zeuge in diesem Verfahren akzeptiert worden. Die Anklage habe einen "Doppelstandard". Offenbar werde dieser Prozess "stellvertretend" für die US-Justiz geführt, die Demjanjuk selbst nicht anklagen könne, weil die ihm zur Last gelegten Taten nicht in Amerika verübt wurden. Für leise Unmutsäußerungen im Publikum sorgte der Anwalt mit den Worten, die Trawniki-Männer stünden "auf der gleichen Stufe" wie "jüdische Kollaborateure und Kapos", die ebenfalls zu Hilfsdiensten gezwungen gewesen seien.

Über den Antrag auf Befangenheit will das Gericht später entscheiden. Der Angeklagte sprach gestern kein einziges Wort, öffnete nur hin und wieder apathisch den Mund, während eine Dolmetscherin für ihn übersetzte. Drei ärztliche Gutachter stellten Demjanjuk als alles in allem verhandlungstauglich dar. Er sei ihnen gegenüber höflich und "sehr kooperativ" gewesen. "Man konnte sich über einfache Dinge des Alltags gut mit ihm unterhalten." Auch die Bedeutung des Prozesses sei ihm bewusst. In der zweiten Sitzung am Nachmittag gab sich Demjanjuk noch gebrechlicher als am Vormittag. Er ließ sich liegend in den Saal rollen. Für eine kurze Behandlung von Kopfschmerzen musste die Verhandlung für 25 Minuten unterbrochen werden.

Efraim Zuroff, Lei-ter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, sagte der WELT, es sei gut, dass schon zu Beginn die zwei Risiken des Prozesses zutage getreten seien: das Thema der Verhandlungsunfähigkeit aus Gesundheitsgründen und der Vorwurf, in der Justiz gebe es einen Mangel an Gleichbehandlung verschiedener Täter. "Doch ein früher gemachter Fehler (der Justiz) kann nicht rechtfertigen, diesen Fehler jetzt zu wiederholen." Der Vergleich der Trawniki-Männer mit jüdischen Kapos sei "beleidigend".

Vor der Betonburg des Gerichts waren in der Verhandlungspause die Nebenkläger zu beobachten. An einer Zigarette ziehend, stand dort der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt Rede und Antwort. Die Frage eines Reporters: "Sie wollen, dass Demjanjuk verurteilt wird?" beantwortete er mit den Worten: "Nein. Ich bin neutral." Er hoffe nur, dass die Geschichte von Sobibor bekannt werde, auch unter jungen Menschen.

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