01.12.2009 00:00 Uhr main-netz.de
»Das ist doch Hollywood«
Ralf Müller/AFP

München Einer der letzten NS-Kriegsverbrecherprozess gegen den 89-jährigen Ukrainer Iwan Nikolai »John« Demjanjuk hat gestern mit Verzögerung vor dem Landgericht München II begonnen.

Mindestens so sehr wie das historische Ereignis selbst wurde unter den mehr als 200 aus der ganzen Welt angereisten Journalisten die Unfähigkeit der Münchener Strafjustiz diskutiert, einen Prozess dieser Bedeutung und Dimension organisatorisch in den Griff zu bekommen.
Entsprechend gereizt war die Stimmung im Zuhörerraum, als der betagte Angeklagte mit mehr als einer Stunde Verspätung auf einen Rollstuhl in den Saal gerollt wurde. Der gebürtige Ukrainer schien unter einer Schildkappe vor sich hin zu dämmern. Regungslos ließ der bis zum Hals in eine hellblaue Decke gehüllte Demjanjuk das minutenlange Blitzlichtgewitter der Fotografen über sich ergehen, mehr auf seinem Rollstuhl liegend denn sitzend: Ein Bild der Hinfälligkeit.
Efraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal Center in Israel, kennt das von vielen NS-Prozessen. Wenn sie begännen, seien alle Angeklagten sehr, sehr krank. »Das ist doch Hollywood«, beklagt Zuroff.
Befangenheitsantrag
Noch bevor es zur Verlesung der Anklage kam, landete Ulrich Busch, einer der beiden Verteidiger, einen publizistischen Coup: Verpackt in einen Antrag, Richter Ralph Alt und die beiden Staatsanwälte wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, hielt er schon einmal eine Art vorgezogenes Plädoyer. Die Staatsanwaltschaft, meinte Busch, hätte gegen den mutmaßlichen Bewacher des Vernichtungslagers Sobibor (Polen) Demjanjuk nie Anklage erheben dürfen, weil in früheren Prozessen dessen Vorgesetzte, nämlich Angehörige der SS-KZ-Wachmannschaften, freigesprochen worden seien.
Der 89-jährige Angeklagte, so steht es in der Anklageschrift, habe sich als Kriegsgefangener freiwillig zur Ausbildung zum so genannten »Trawniki« gemeldet und dann in Sobibor Beihilfe zum Mord an mindestens 27 900 Juden geleistet. »Trawniki« genannt wurden die »fremdvölkischen Wachmannschaften«, die in den Vernichtungslagern die Drecksarbeit für die SS-Bewacher erledigen mussten. Sie waren es, welche zum Beispiel die in Güterwaggons antransportierten Juden in die Gaskammern trieben.
Doch Anwalt Busch stellte den betagten Angeklagten als Opfer, nicht als Täter hin. Die »Trawniki« hätten ebenfalls wie die so genannten »Funktionshäftlinge« und »Arbeitsjuden« nur die Wahl gehabt, »perfekt zu gehorchen oder erschossen oder vergast zu werden«. Sogar Angehörige der SS-Wachmannschaften, also Vorgesetzte der Kollaborateure seien in früheren Prozessen wegen »Putativ-Notstands« freigesprochen worden. Es könne aber nicht angehen, die Befehlsgeber freizusprechen und die Befehlsempfänger zu verurteilen, so der Anwalt. Ausgerechnet gegen das kleinste Rad am Wagen werde verhandelt, was dem Gleichbehandlungsgrundsatz widerspreche.
Ganz anders der 83-jährige KZ-Überlebende Robert Cohen: Er kennt alle Argumente gegen einen Demjanjuk-Prozess wie das hohe Alter des Beschuldigten und den nachsichtigen Umgang der deutschen Justiz mit deutschen KZ-Wächtern. Deutschland sei bei diesen Prozessen aus der Nachkriegszeit noch kein Rechtsstaat gewesen, findet der in Amsterdam Lebende, der nach München gereist ist. »Deutschland hat jetzt die Chance, ein Rechtsstaat zu werden.«
Demjanjuk hätte desertieren können, sagt Cohen. Dann krempelt er einen Ärmel seines braun-weiß gestreiften Hemds hoch. Die Häftlingsnummer 174708 aus dem Konzentrationslager Auschwitz steht dort eintätowiert. 1943, als Cohen Auschwitz überlebte, wurden seine Eltern und sein Bruder in Sobibor vergast. Laut Anklage war Demjanjuk in dieser Zeit dort Wärter.
Die 22 nach München gekommenen Nebenkläger, unter ihnen der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt und Angehörige von ermordeten Juden wie Cohen, taten sich teilweise sichtbar schwer, dem Verteidiger schweigend zuzuhören. Besonders als Busch meinte, sein Mandant stehe »auf gleicher Stufe« mit dem Nebenkläger Blatt, der ebenfalls Hilfsdienste verrichtet habe, hörte man Zischen. Mögliche Unterlassungen der deutschen Justiz bei der Verfolgung von NS-Verbrechen in der Vergangenheit könnten kein Grund sein, Demjanjuk nicht anzuklagen, meinte der Nebenkläger-Anwalt. Im Übrigen seien die »Trawniki« keineswegs nur widerwillige Handlanger gewesen. Sie hätten Ausgang und Urlaub gehabt und sich an den Wertsachen der Opfer bereichert.
Enormes Medieninteresse
Ü ber den Befangenheitsantrag will das Gericht zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Ein Nachspiel könnte auch der Umgang der Münchener Strafjustiz mit den Journalisten aus aller Welt sein. Obwohl seit Monaten bekannt war, wie enorm das Medieninteresse insbesondere aus Osteuropa, den Niederlanden, den USA und Israel sein würde, mussten die Berichterstatter zum Teil mehr als vier Stunden warten, bis sie nach strengen Kontrollen sowie ihrer Handys und Laptops beraubt in den Schwurgerichtssaal eingelassen wurden. »Das Oktoberfest«, sagte ein amerikanischer Journalist, »war besser organisiert. Man sollte diese Leute das machen lassen«.
Ausländische Journalisten setzten gar eine Resolution gegen die Justiz-Verantwortlichen wegen des »Skandals« in Gang. Auch Michel Friedmann, früherer Vizevorsitzender des Zentralrats der Juden, war stinksauer: »Das ist bereits ein Stück Prozessgeschichte«, drohte er.

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