2. Dezember 2009, 04:00 Uhr welt.de
"Sie hätten fliehen können"
Von Gerhard Gnauck

Bei der Eröffnung des Prozesses gegen John Demjanjuk war Efraim Zuroff anwesend. Der Historiker leitet die Zweigstelle des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Israel, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Strafverfolgung von NS-Verbrechern weltweit voranzubringen. Mit Zuroff sprach Gerhard Gnauck.

DIE WELT: Herr Zuroff, wie bewerten Sie diesen Prozess?

Efraim Zuroff: Ich finde es wichtig, dass in einem der vermut-lich letzten Verfahren ein mutmaßlicher NS-Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen wird. Das Argument, dass in früheren Jahren viele höherrangige deutsche SS-Leute freigesprochen wurden, überzeugt mich nicht. Wenn damals Fehler gemacht wurden, so heißt das doch nicht, dass wir diese alten Versäumnisse heute wiederholen müssen.

DIE WELT: Demjanjuks Verteidigung sagte am gestrigen Dienstag, das israelische Urteil gegen ihn von 1987 habe seine Tätigkeit in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor enthalten, und niemand könne zweimal für dieselbe Tat vor Gericht stehen. Außerdem machte sie Befehlsnotstand geltend. Viele desertierte Wachmänner, so hieß es, seien erschossen worden.

Zuroff: Im Lager Sobibor haben 30 deutsche SS-Leute 120 Ukrainer befehligt. Die Ukrainer waren bewaffnet, eigentlich hätten sie die SS-Leute überwältigen können. Sie hätten fliehen können. Ich weiß, diese Menschen standen vor schwierigen Entscheidungen. Aber jeder muss für seine Taten Verantwortung übernehmen. Was die frühere Verurteilung Demjanjuks betrifft, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob dort Sobibor erwähnt worden ist.

DIE WELT: Das Wiesenthal-Zentrum hat gerade seinen Jahresbericht herausgegeben. Wer sind heute die meistgesuchten NS-Verbrecher?

Zuroff: Alois Brunner, der enge Mitarbeiter Eichmanns. Er hat zuletzt lange in Syrien gelebt. Er ist mittlerweile fast mit Sicherheit verstorben. Der Nächste ist der für viele Morde und tödliche Injektionen verantwortliche KZ-Arzt Aribert Heim, angeblich 1992 in Kairo verstorben - auch hier gibt es aber keine Sicherheit, und unsere Ermittlungen stecken fest. Ein weiterer wäre Klaas Carl Faber, der Gefangene im holländischen Lager Westerbork ermordet hat, von wo die Transporte nach Sobibor gingen, und der 1952 aus den Niederlanden nach Deutschland floh. Die Justiz in Ingolstadt hat seitdem, trotz niederländischer Bitten, nichts unternommen.

DIE WELT: Ihr Zentrum nennt für das vergangene Berichtsjahr in Deutschland neu aufgenommene Ermittlungen in 43 Fällen, mehr als in jedem anderen Land. Dagegen liegt bei der Anzahl der bereits bisher laufenden Ermittlungen Polen mit 270 Fällen vorne.

Zuroff: Die Zahlen nennen uns die Behörden der jeweiligen Länder - ohne Details oder die Staatsangehörigkeit der Verdächtigen. Was die polnische Statistik betrifft: Sie hat keine Bedeutung; in diesen Fällen wird es nicht zu Anklagen kommen. Es gab in Polen in den letzten zehn Jahren nur ein Urteil gegen einen NS-Verbrecher.

DIE WELT: Gab es in den vergangenen Jahren weitere Fälle mit NS-Verbrechern in Ostmitteleuropa?

Zuroff: In der Ukraine gibt es meines Wissens keine Fälle, in denen ermittelt worden wäre. In Ungarn wird seit zwei Jahren schleppend gegen Sandor Kepiro ermittelt, der als ungarischer Polizeioffizier an der Ermordung von 1200 Juden sowie auch Serben und Roma beteiligt war. Es gibt den Fall von Michail Gorschkow, der an Judenmorden teilgenommen hat, dem die US-amerikanische Staatsbürgerschaft entzogen wurde und der jetzt vermutlich in Estland lebt, wo gegen ihn ermittelt wird. In Litauen gab es seit 2000 zwei Urteile, eines davon zu fünf Jahren, es betrifft Algimantas Dailide, der als Polizist Juden verhaftet hat, die dann von anderen ermordet wurden. Dailide ist aus angeblichen Gesundheitsgründen freigelassen worden und lebt heute in Deutschland.

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