11. August 2009 faz.net
Er ließ Rache üben an Bauern
Von Martin Wittmann, München

11. August 2009 Am Ende war es nicht der 90 Jahre alte Angeklagte, der bei der Urteilsverkündung einen Schwächeanfall erlitten hat, sondern sein Verteidiger. Josef Scheungraber selbst nahm regungslos und ungerührt zur Kenntnis, dass ihn die 1. Strafkammer des Münchner Schwurgerichts gerade zu lebenslanger Haft wegen zehnfachen Mordes und Mordversuchs in einem Fall verurteilt hatte.

Er setzte sich wieder auf die Anklagebank des Saales 101, den er, auf eine Krücke gestützt, betreten hatte, während die Zuschauer noch dem Richter applaudierten. In seinem dunklen Janker saß Scheungraber da, mit einer Lupe in der Hand, um die Schriftstücke zu lesen, und einem Hörgerät an den Ohren, um die Urteilsbegründung im wohl letzten Prozess gegen einen Kriegsverbrecher aus den Reihen der in Italien stationierten Wehrmacht zu hören.

Nach der Explosion schossen die Soldaten in die Trümmer

Der Richter schilderte die Geschehnisse, die zu dem elf Monate dauernden Prozess gegen Scheungraber und zu dessen Verurteilung führten: Am Nachmittag des 27. Juni 1944 trieben deutsche Soldaten der 1. Kompanie des Gebirgspionierbataillons 818 elf italienische Bauern und Bauernsöhne zu einem Haus, der Casa Cannici in Falzano di Cortona. Während die Männer vor dem Gebäude festgehalten wurden, ließen die Soldaten um sie herum Häuser und eine Kirche in die Luft sprengen. Auch in die Casa Cannici wurde über eine Außentreppe kistenweise Sprengstoff getragen. Dann trieben die Soldaten die elf Männer in das Haus.

Da nach der Explosion des Sprengstoffs in dem Haus noch Schreie und Stöhnen zu hören waren, schossen die Soldaten in die Trümmer, um die zu töten, die noch am Leben waren. Einzig ein damals 15 Jahre alter Junge überlebte die Explosion wie das Maschinengewehrfeuer, da er von einem Balken und dem Körper eines anderen Gefangenen geschützt wurde. Die anderen zehn Männer aber sind an jenem Nachmittag von der 1. Kompanie ermordet worden, auf Befehl ihres Anführers, des Offiziers Josef Scheungraber. Das Gericht folgte mit dieser Einschätzung der Staatsanwaltschaft, die 64 Jahre nach der Tat, im September des vergangenen Jahres, Anklage gegen den Rentner erhoben hatte.

In diesem Anklagepunkt wurde Scheungraber freigesprochen

Detailliert ging das Gericht bei der Urteilsverkündung auf die Vorgeschichte der Tat ein: In jenen Kriegstagen des Jahres 1944 sollte das Bataillon 818 zum einen Minen legen, um den Vormarsch der Alliierten zu bremsen, zum anderen den Rückzug der deutschen Truppen aus Italien sichern, indem es zerstörte Wege und Brücken wieder instand setzte. Am 26. Juni reparierten die Soldaten unter großem Zeitdruck eine wohl von Partisanen gesprengte Brücke bei Falzano in der Toskana. Scheungraber schickte drei Soldaten in das nahe Minimella-Tal. Ein Pferd, ein Fuhrwerk und Lebensmittel sollten sie dort von den Bauern holen. Im Tal wurden die drei Soldaten jedoch von Partisanen attackiert. Zwei der Soldaten wurden erschossen, der dritte konnte sich leicht verwundet zur Einheit flüchten und von dem Überfall berichten.

Während Scheungraber am nächsten Morgen mit einem Teil seiner Kompanie die beiden Toten beerdigte, durchkämmten die anderen Soldaten auf Befehl ihres Anführers das Gelände. Sie griffen wahllos Männer auf - obwohl den Soldaten bekannt war, dass die Partisanen zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in ihrer Nähe waren, sollten sie Vergeltung üben. Nicht nur wurden 13 Männer festgenommen, die Soldaten erschossen an diesem Vormittag auch drei Männer und eine Frau. Ein Befehl zur Ermordung dieser vier Zivilisten konnte Scheungraber nicht nachgewiesen werden, sagte Götzl. In diesem Anklagepunkt wurde Scheungraber freigesprochen.

Niedere Beweggründe

Zwei der 13 Festgenommenen wurden am 27. Juni 1944 wieder freigelassen, die restlichen elf schließlich in die Casa Cannici getrieben. Der Richter sagte, Scheungraber, der erst Wochen zuvor die Führung der 50 Mann zählenden Kompanie übernommen hatte, habe sich bewähren wollen. Er fühlte sich für die getöteten Soldaten verantwortlich, und wie deren Kameraden war er wütend, hasserfüllt und rachsüchtig. Scheungraber wollte den Tod der beiden Soldaten sühnen, und da er der Schuldigen nicht habhaft werden konnte, ließ er Unschuldige ermorden. Der Richter sprach daher am Dienstag in der Urteilsbegründung von niederen Beweggründen.

Scheungraber hingegen plädierte bis zuletzt auf Freispruch. Während des Prozesses ließ er seine Anwälte ausrichten, ihr Mandant habe keinerlei Kenntnis von dem „Vorgang“ in Falzano. Am 27. Juni habe er, wie beauftragt, den ganzen Tag die Brücke repariert. Als Beweis, dass Scheungraber an diesem Tag doch bei der Beerdigung der beiden getöteten Soldaten war, diente dem Gericht ein Foto, das den Offizier bei dem Begräbnis zeigt. Selbst wenn er am Nachmittag an der Brücke, die nur einen Kilometer vom Tatort entfernt gestanden hat, gearbeitet hätte, hätte er zumindest die Sprengung der Häuser gehört haben müssen, sagte der Richter.

Eher geachtet denn geächtet

Im Gegensatz zu Scheungraber konnten sich fast alle Zeugen, die im Prozess ausgesagt haben, an die grausamen Geschehnisse in der Toskana erinnern. Es gab jedoch keinen Zeugen, der Scheungraber den entscheidenden Befehl zurechnete. Kriegskameraden konnten oder wollten sich vor Gericht nicht mehr erinnern, viele Angaben waren unglaubwürdig oder widersprüchlich. Entscheidend für das Gericht indes war die durch Zeugenaussagen und Historikerexpertisen gewonnene Erkenntnis, dass zum einen sich nur eine einzige Kompanie in der Nähe des Tatorts befunden hatte und zum anderen dem Handeln der Soldaten definitiv der Befehl eines Offiziers vorausgegangen sein musste. Und der einzige Offizier am Ort war damals Scheungraber.

Eher geachtet denn geächtet lebte Scheungraber nach dem Krieg in der oberbayerischen Gemeinde Ottobrunn als Schreiner. Er hatte einen Sitz im Gemeinderat, war Ehrenkommandant der Freiwilligen Feuerwehr und bekam 2005 gar die „Bürgermedaille“ überreicht. Im Jahr darauf aber verurteilte ihn ein Militärtribunal in La Spezia in Italien zu lebenslanger Haft. Scheungraber wurde aber nicht ausgeliefert.

„Hohes Alter darf nicht dem rechtlichen Schutz dienen“

Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz sprach nach der Urteilsverkündung von einem „Meilenstein“ bei der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen. Der Direktor des Jerusalemer Büros des Wiesenthal Center, Efraim Zuroff, sagte: „Das heutige Urteil bestärkt die Sichtweise, dass der zeitliche Abstand zur Tat in keiner Weise die Schuld der Täter vermindert und dass das hohe Alter nicht dem rechtlichen Schutz der Mörder dienen darf.“

Der Verteidiger Scheungrabers indes erholte sich schnell von seinem Schwächeanfall und kündigte zusammen mit seinen Kollegen an, in Revision zu gehen. Bis das Gericht über die Revision entscheidet, bleibt Scheungraber auf freiem Fuß. Eine Flucht traut ihm das Gericht nicht mehr zu.

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