03.07.2009
spiegel.de
"Ich hab im Moment keine Beschwerden"
Aus München berichtet Sebastian Fischer

Mangel an Zeugen und Dokumenten, krudes Plädoyer: Im Prozess gegen den wegen 14fachen Mordes angeklagten mutmaßlichen Kriegsverbrecher Josef Scheungraber fordert die Verteidigung Freispruch. Alte Kameraden im Publikum finden das prima.

München - Man kennt sich hier. Servus und Grüas di - die alten Kameraden in Saal 101 des Münchner Landgerichts schütteln sich die Hände. Sie sind der Unterstützungstrupp des Angeklagten, der jetzt hineingeführt wird: schlohweißes Haar, buschige Augenbrauen, Trachtenjanker. Der 90-jährige Josef Scheungraber wünscht einen "Guten Morgen", schlurft durch den Raum. Dann lässt er sich auf den blassrot bezogenen Stuhl fallen.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Greis 14fachen Mord vor - im Jahr 1944. Damals, im Juni, soll Scheungraber als Kompanieführer im Gebirgspionier-Bataillon 818 im italienischen Falzano di Cortona in der Toskana den Befehl zu zwei Vergeltungsanschlägen für einen Partisanenangriff gegeben haben.

Vier Zivilisten wurden auf der Straße erschossen, elf in einem Bauernhaus in die Luft gesprengt. Einer überlebte.

Die Ankläger fordern lebenslange Haft. Scheungraber, der wegen des Massakers bereits von einem italienischen Militärgericht vor drei Jahren in Abwesenheit zu ebendieser Strafe verurteilt wurde, weist die Vorwürfe zurück. Jeder seiner drei Verteidiger plädiert an diesem Freitag nach neun Prozessmonaten für Freispruch. "Es lässt sich nichts, aber auch gar nichts an Beweismitteln zusammentragen, das die persönliche Schuld von Herrn Scheungraber erkennen lässt", so dessen Anwalt Christian Stünkel in seinem Plädoyer.

Tatsächlich konnten während des Prozesses weder Dokumente vorgelegt noch Zeugen geladen werden, die einen direkten Befehl von Josef Scheungraber belegen. Viele der einstigen Zeugen sind mittlerweile verstorben. Doch geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der damalige Kompanieführer entsprechend seiner militärischen Funktion eingebunden war. "Eine absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, es reicht ein ausreichendes Maß an Sicherheit", so Ankläger Hans-Joachim Lutz bei seinem Plädoyer Mitte Juni.

"Alles andere ist Vermutung"

Dagegen Verteidiger Stünkel: Es sei nicht ersichtlich, wo die persönliche Schuld seines Mandanten bei der Erschießung der vier Zivilisten liegen soll, es gebe keine Zeugenaussagen. Und bei den Toten im Bauernhaus habe man zwar "die Tatsache, dass Menschen in ein Haus gesperrt wurden, das gesprengt wurde, aber alles andere ist Vermutung".

Immer wieder rückte der Gesundheitszustand und eine mögliche Verhandlungsunfähigkeit des 90-jährigen Angeklagten in den Mittelpunkt des Prozesses. Zuletzt mussten die Plädoyers der Verteidigung verschoben werden, weil Scheungraber mit Verdacht auf einen Schlaganfall in die Klinik eingeliefert wurde. Allerdings betont der behandelnde Arzt an diesem Freitag in Saal 101, dass es sich nur um eine vorübergehende Durchblutungsstörung im Gehirn gehandelt habe.

Der schwerhörige und deshalb mit einem Kopfhörer ausgestattete Josef Scheungraber auf dem Stuhl des Angeklagten verfolgt die Szenerie derweil nahezu unbeteiligt. Zwischendurch droht er einzunicken, dann zupft ihn einer seiner Anwälte am Ärmel. Texte liest er mit der Lupe. Als Richter Manfred Götzl nach seinem Befinden fragt, antwortet Scheungraber lautstark: "Ich hab' im Moment keine Beschwerden, und ich bin froh, wenn heute verhandelt wird." Ob er denn ordentlich hören könne? "Jawoll!", ruft Scheungraber.

Skurrilitäten eines der wohl letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse. Genauso wie die Rede des Scheungraber-Verteidigers Klaus Goebel. Der argumentiert anfangs mit europäischer Menschenrechtskonvention und EU-Grundrechtecharta, wechselt dann über in trübe Gewässer. Da wird die deutsche Wehrmacht dann schon mal zum Opfer. "Mehrere tausend deutscher Soldaten", sagt Goebel, seien "Opfer der italienischen Partisanen" geworden. Und dabei handele es sich "um ein völkerrechtswidriges Tätigwerden dieser Partisanen".

Die Älteren im Publikum finden das offenbar eine prima Argumentation. Scheungraber derweil schaut unter halbgeschlossenen Augenlidern reglos geradeaus.

Am 16. Juli geht es weiter, möglicherweise schon mit der Urteilsverkündung. Und gleich darauf könnte der nächste Prozess gegen einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher folgen. Denn zeitgleich zu Scheungrabers Auftritt vor Gericht verkündete die Münchner Staatsanwaltschaft, dass der 89-jährige John Demjanjuk eingeschränkt verhandlungsfähig sei. Noch im Juli soll Anklage erhoben werden. Der Vorwurf: Beihilfe zum Mord an mindestens 29.000 Juden. Der gebürtige Ukrainer Demjanjuk soll als KZ-Wachmann im von Deutschland besetzten Polen die Menschen 1943 in die Gaskammern getrieben haben.

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