18.6.2009 - 11:16 Uhr
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Späte Suche nach Wahrheit
Von Hellmut Vensky

In München geht einer der letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse zu Ende. Der 90-jährige Josef Scheungraber soll 1944 in Italien ein Massaker an 14 Zivilisten befehligt haben
Gino M. ist gerade 15 Jahre alt, als der toskanische Bauernjunge am 27. Juni 1944 Schüsse hört. Deutsche Wehrmachtssoldaten treiben in dem Dorf Falzano di Cortona wahllos Zivilisten zusammen. Auch Gino. "Ich hatte solche Angst. Ich habe nur noch gezittert", sagt der knapp 80-Jährige im Prozess gegen Josef Scheungraber aus, den damaligen Leutnant der Gebirgsjäger, der die Vergeltungsmaßnahme für einen Partisanenüberfall angeordnet haben soll.

Vier Dorfbewohner erschießen die Soldaten sofort. Elf weitere, darunter Gino M., werden in ein Haus gesperrt, die Casa Canicci. Die Soldaten des Gebirgspionierbataillons 818 sprengen das Gebäude, feuern in die Trümmer zwei, drei Maschinengewehrsalven, sagt Gino M. Eine 74-jährige Frau ist unter den getöteten "Partisanen".

Gino M. überlebt das Massaker als Einziger, mit schweren Verbrennungen und einem Wirbelsäulenschaden, der ihm bis heute zu schaffen macht. Er ist ungern zur Aussage nach München gekommen. Er will keine Sühne, er will vergessen: "Es wäre besser gewesen, sie hätten uns alle an Ort und Stelle erschossen."

Am Donnerstag hielten Staatsanwaltschaft und Nebenklage ihre Plädoyers in dem Münchner Schwurgerichtsprozess gegen Scheungraber, der bereits 2006 in Italien in Abwesenheit wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Ankläger forderte lebenslange Haft wegen vierzehnfachen Mordes. Der ehemalige Kompanieführer des Gebirgspionierbataillons soll als Vergeltungsschlag für den Tod von zwei Wehrmachtsangehörigen in einem Partisanenhinterhalt das Massaker befohlen haben.

Am 24. Juni ist die Verteidigung an der Reihe, das Urteil ist für den 3. Juli avisiert – wenn nichts mehr dazwischenkommt: Der Prozess, der im September 2008 begann, hätte eigentlich längst zu Ende sein sollen, doch die Zeugen sind alte Männer. Von manchen gibt es nur noch früher protokollierte Aussagen aus dem italienischen Verfahren.

Gleich drei Anwälte hat Scheungraber. Keiner ist Strafrechtsexperte, aber alle drei sind wegen ihres Engagements für die rechtsextreme Szene bekannt: Klaus Goebel hat schon den Anton Malloth vertreten, einen berüchtigten Aufseher aus dem KZ Theresienstadt, und den Holocaust-Leugner David Irving; Christian Stünkel verteidigt regelmäßig Neonazis und NPD-Mitglieder; Rainer Thesen, Reserveoffizier der Bundeswehr aus Nürnberg, der schon unter Josef F. diente, schreibt Leserbriefen an die rechtskonservative Junge Freiheit.

Es heißt, die "Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte", die Altnazis und NS-Verbrecher vor Gericht unterstützt, bezahle die Anwälte. Der Angeklagte behauptet, er sei verarmt. Das kann Taktik sein: Im Fall eines Schuldspruchs wollen Angehörige der Opfer Zivilklage gegen ihn einreichen.

Die Anwälte, die mit Journalisten ungern reden, entwickelten widersprüchliche Darstellungen. Mal sollte Scheungraber zur Tatzeit gar nicht in der Gegend gewesen sein, dann wieder mit einem Teil seiner Kompanie einige Kilometer weit weg eine Brücke repariert haben.

Scheungraber selbst sagte im Prozess nicht aus. Zuvor hatte er in einer polizeilichen Vernehmung angegeben, er habe mutmaßliche Partisanen verhaften lassen und sie der Feldgendarmerie übergeben. Militärexperten halten das für unglaubwürdig: Gegen Ende des Krieges kämpften Feldgendarmen an der Front, sie standen nicht im Hinterland.

Viel spricht gegen Scheungraber: Der Kompanieführer war es, der einen Tag vor der Sprengung der Casa Canicci zwei von Partisanen getötete Soldaten seiner Einheit fand, er leitete die Ehrenformation anlässlich der Beerdigung im nahen Umbertide. Für sich verbuchen kann die Verteidigung nur, dass Zeugen sich angeblich nicht mehr an den Namen ihres Kompanieführers erinnern konnten. Aber Scheungraber hat noch am Vortag des Massakers als Kompanieführer eine Beförderung unterzeichnet.

Die Richter in La Spezia bescheinigten dem Kriegsfreiwilligen Scheungraber in ihrem Urteil 2006, aus seinen Wehrmachtsakten "ergeben sich klare Anzeichen dafür, dass der Angeklagte sich überzeugt und absolut der Kriegsführung der Nazis widmete". Scheungraber hatte es 1943 trotz einer schweren Verletzung abgelehnt, sich an die Heimatfront versetzen zu lassen.

"Ich glaube nicht, dass er eine Verurteilung zu einer Haftstrafe noch fürchtet", sagt Anwältin Gabriele Heinecke, die 14 Angehörige der Opfer in der Nebenklage vertritt. Aber für ihre Mandanten, sagt die Fachanwältin für Strafrecht, "war es wichtig, dass er drei Dutzend Verhandlungstage lang im Gerichtssaal sitzen und sich diesem Prozess stellen musste".

Das Dorf Falzano gibt es nicht mehr. Wo es lag, sind Feldsteine aufgeschichtet aus der Ruine der Casa Canicci. Eine Tafel nennt die Namen der "vittime della barbarie tedesca", der Opfer der deutschen Barbarei. Im nahen Cortona wunderten sie sich, als sie von der Erklärung des Ottobrunner Bürgermeisters Thomas Loderer (CSU) hörten. Im Sommer 2008, als die Staatsanwaltschaft die Anklage vorbereitete, sagte Loderer, er halte Scheungraber für unschuldig.

Inzwischen hat der Gemeinderat von Ottobrunn an die Gemeinde Cortona geschrieben, das "furchtbare Verbrechen" verurteilt und begrüßt, dass "diese grausame Tat in einem Prozess endlich aufgearbeitet wird".

Scheungrabers Möbelgeschäft in Ottobrunn führt heute sein Sohn. Ehrenmitglied der Freiwilligen Feuerwehr ist der in Italien rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher immer noch. Immerhin: Je nachdem, wie das Verfahren in München ausgeht, hört man aus Ottobrunn, wollen sie ihm vielleicht seine Bürgermedaille aberkennen.

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