3. Juni 2009
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Rückkehr der Vergangenheit am Lebensende
VON VOLKER SCHMIDT

Der gebürtige Litauer Algimantas Dailide gilt als einer der meistgesuchten Kriegsverbrecher – Dabei lebt er seit 6 Jahren offiziell in Kirchberg

Ein Kirchberger steht seit einigen Tagen im Blickpunkt der Öffentlichkeit: Der gebürtige Litauer Algimantas Dailide. Seit in der Presse und via Bildschirm verkündet wurde, dass er auf der Liste der meist gesuchten Nazi-Kriegsverbrecher steht, ist es mit der Ruhe vorbei.

Von Sara Thiel

Kirchberg. Er hat sein Leben lang geschwiegen. So lange, bis andere für ihn sprachen. Über seine Vergangenheit, seine Taten. Darüber, warum Algimantas Dailide auf der Liste der meistgesuchten Verbrecher der Welt auf einem der vorderen Plätze steht. Jetzt bricht er sein Schweigen. Sagt, warum er seiner Ansicht nach auf die von den Nazi-Jägern im Simon-Wiesenthal-Zentrum veröffentlichte Liste gar nicht gehört. Erzählt seine Version der Geschichte.

Schuldig – aber ohne Strafe

Dailide lebt seit 2003 in Kirchberg. Er hatte sich mit seiner Frau Ruth in Sachsen niedergelassen, als ihm nach gut einem halben Jahrhundert die US-amerikanische Staatsbürgerschaft entzogen worden war. Die beiden führten ein ruhiges Leben. Nur einmal, 2006, fuhr er in seine litauische Heimat, um sich vor Gericht zu verantworten. „Ich wurde schuldiggesprochen“, sagt er. Als Mitglied der litauischen Geheimpolizei Saugumas soll er an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt gewesen zu sein. Ein Strafmaß sei jedoch nie festgelegt worden, sagt Dailide. Schon wegen seines Alters und seines Gesundheitszustandes. „Deswegen ist der Staatsanwalt in Berufung gegangen. Er hat fünf Jahre für mich gefordert“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Manchmal schleicht sich auch etwas Englisches in seine Erzählung. Die Schriftstücke wiederum sind auf Litauisch verfasst. Ein Haltloser ist er, steckt zwischen drei Sprachen und mindestens zwei Möglichkeiten, seine Vergangenheit darzustellen. Seine eigene erzählt von der Unschuld. Deswegen forderte sein Verteidiger Freispruch.

Die angestrebte Berufungsverhandlung 2008 brach Algimantas Dailide ab. “ Ich musste meine Frau pflegen.“ Das tat er auch, bis zu ihrem Tod in diesem Frühjahr. „Jetzt fehlt im das Geld, wieder nach Litauen zu reisen“, wirft Bruder Vitus Laib ein. Der Pfarrer der katholischen Gemeinde in Kirchberg sitzt mit an dem schweren Tisch. Eiche rustikal. Er will dem 87-Jährigen den Rücken stärken. Denn er glaubt ihm, sagt Bruder Vitus. Es ist nicht von Vergebung die Rede, sondern von Unschuld. Dass Dailide 1941 als 19-Jähriger geholfen haben soll, Juden zu fangen und auszuliefern – das glaubt er nicht.

Der Mann mit den weißen Haaren und der großen Brille sucht in den Papieren, die griffbereit liegen. Kopien von Berichten, verfasst in Litauisch. Zwölf Namen stehen da, jüdische. Die Namen von Menschen, die aus dem Ghetto in Vilnius entkommen waren und fliehen wollten. „Eines Abends sagte mein Chef, ich soll 19 Uhr wieder da sein“, erinnert er sich an jenen 30. Oktober 1941. Dann erzählt er von der Fahrt in einem leeren Laster, zusammen mit drei Kollegen. Berichtet vom plötzlichen Stopp, davon, wie er einen identischen Wagen ganz in der Nähe sah, wie beide wieder zurückfuhren. Wie er nach Hause geschickt wurde. Offenbar waren im anderen Fahrzeug besagte zwölf Menschen. Das steht in zwei Berichten. In einem dritten Bericht steht, dass der zweite Chauffeur ein Agent der Gestapo gewesen sei und die ganze Aktion eine Finte. Die Juden sollten glauben, man fahre sie in die Freiheit, in Wahrheit aber war man wieder umgekehrt. Dieser Bericht, datiert auf den 27. Oktober, ist Dailides Kronzeuge für seine Unschuld. Er habe von all dem nichts geahnt, habe sich damals nur gewundert. „Aber diesen Report hat niemand gelesen. Nicht der Staatsanwalt und nicht die Leute vom Wiesenthal-Zentrum. Es hat sie nicht interessiert“, sagt er. Die Leute aus Jerusalem stufen ihn als einen der meistgesuchten Nazi-Verbrecher ein. Dass sie – obwohl er seit 2003 im Telefonbuch steht – nie mit ihm geredet haben, ärgert den sonst so gefasst wirkenden Mann sichtlich. „Das ist ein großer Spaß und eine Schweinerei, was der Zuroff mit mir macht“, wettert er. Efraim Zuroff ist Direktor des Wiesenthal-Zentrums und gilt als der letzte Nazi-Jäger.

Emotionen im Verborgenen

Die Emotionen sitzen tief bei Dailides. Meist wirkt er freundlich distanziert. Selbst wenn er erklärt, dass er nach dem Bericht im Fernsehen keine Reaktion bekommen habe. Dabei weiß Bruder Vitus von telefonischen Beschimpfungen. Eine Nachbarin sagt, er habe am Tag danach darauf verzichtet, zum Frisör zu gehen. Manchmal aber verliert dieser Mann seine Fassung. Kurz nur, aber sichtbar. Wenn er von seiner Frau erzählt, die dem Krebs erlag. Wenn er an Amerika zurückdenkt, wo seine zwei Söhne wohnen. „Ich habe 8 Enkel und 13 Urenkel, glaube ich. Und ich darf nicht zu ihnen.“ Dann ist er plötzlich nicht im Raum. Ihm wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, als man dahinterkam, dass seine Formulare falsch sind. Nach dem Krieg war er in Bamberg, in einem Gefangenenlager. Um nach Amerika ausreisen zu können, verschwieg er seine Arbeit bei der Saugumas. „Das haben viele gemacht. Wir wollten doch weg.“ Irgendwann kam es heraus. Den Ausgang des Prozesses in den USA hat er nicht abgewartet. Innerhalb von zehn Tagen waren er und seine Frau ausgereist. Sie tauschten Cleveland mit Sachsen. „Wir haben kaum etwas mitgenommen.“ Die Wohnung ist deutsch. Tisch mit Kacheln, blaues Ledersofa, moderne blaue Schrankwand, einige Teddys auf der Sofalehne. Weiße Wände. Blumen auf dem Fensterbrett. Kaum Persönliches. Nur die Kopien in den Heftern. Es scheint, dass dort drinnen nun sein Leben steckt.

Der letzte Beweis fehlt

„Ich war doch keiner von den Großen“, sagt er. „Ich war doch nur in der Schreibstube.“ Aber er war dabei. „Ja“, sagt er. Als im Juni 1941 die Deutschen nach Litauen kamen, da war man froh, die Russen los zu sein. „Die haben doch auch Leute nach Sibirien geschickt. Juden. Und Litauer auch“, sagt er. Als junger Mann hat er für die Deutschen gearbeitet. Diese Schuld nimmt er auf sich. Alles andere weist er von sich.

Damit ist die Geschichte eines Lebens erzählt. Algimantas Dailides Geschichte. War er ein Verbrecher? Oder war er ein kleines Licht, einer, der in schwierigen Zeiten mit dem Strom schwamm, ohne sich die Hände schmutzig zu machen? Die Leute vom Simon-Wiesenthal-Zentrum sind von ersterem überzeugt, Dailide selbst beharrt auf seiner Version der Geschichte. Den letzten Beweis bleiben beide schuldig. Wem man glaubt, hängt wohl vor allem davon ab, mit welchen Ohren man ihnen zuhört.

Operation Last Chance

Unter diesem Namen suchen das Simon-Wiesenthal-Zentrum und Targum Shlishi Foundation Kriegsverbrecher aus der Nazizeit. Es ist sogar eine Prämie ausgesetzt für alle, die helfen, die Gesuchten zu verurteilen.

Nachdem Namen wie Mengele, Stangl oder zuletzt Demjanjuk von der Liste der meistgesuchten Kriegsverbrecher verschwunden sind, konzentrieren sich die Aufklärer zunehmend auf Täter aus Osteuropa. Unter ihnen Algimantas Dailide – irgendwo zwischen Platz 4 und 9. Chefaufklärer Efraim Zuroff beharrt auf dieser Einstufung. Damit will er zum einen Aufmerksamkeit für den Fall erreichen, zum anderen fordert er, dass Dailide als verurteilter Verbrecher seine Haft antreten muss. Zuroff sagte gegenüber der Presse, es sei ein Hohn der Gerechtigkeit, dass der Litauer heute unbehelligt in Deutschland leben darf.

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