04. Juni 2009
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Der Neue auf der Wiesenthal-Liste
VON VOLKER SCHMIDT

Ein dunkles Kapitel deutscher Rechtsgeschichte beginnt am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1952: Sieben NS-Kriegsverbrecher fliehen aus dem Gefängnis im holländischen Breda. Klaas Carel (oder Carl) Faber ist einer von ihnen.

Er und sein Bruder Pieter Johan haben im Sicherheitsdienst der deutschen Besatzer gedient, Gefangene in Lagern bewacht und an Razzien teilgenommen. Beide wurden 1944 wegen der Hinrichtung von Gefangenen, unter anderem im Juden-Durchgangslager Westerbork, zum Tode verurteilt. 1948 wurde das Todesurteil an Pieter Johan vollstreckt, Klaas Carels Strafe in lebenslange Haft umgewandelt.

Mit 110 anderen niederländischen und 63 deutschen Kriegsverbrechern, allesamt "Lebenslängliche", sitzt Faber in "De Koepel" ein, dem Gefängnis von Breda. Am 26. Dezember 1952 nutzen er und sechs weitere NS-Kollaborateure das Gewimmel vor der weihnachtlichen Filmvorführung, um sich in den Heizungskeller zu schleichen. Einer von ihnen, der als "Henker von Ommen" berüchtigte Herbertus Bikker, hat Tage zuvor bei einem Arbeitseinsatz die Kohlenklappe zum Hof unverschlossen gelassen. Im Hof haben die Flüchtlinge Leitern versteckt, überqueren die Mauern, fliehen nach Deutschland.

Die deutschen Beamten im Zollamt Wyler begrüßen die Kriegsverbrecher mit Kaffee und Kuchen. "Der Zollamtsleiter war ein Kriegskamerad", erzählt Bikker 1997 dem Stern. Ein Amtsrichter verurteilt sie wegen illegalen Grenzübertritts zu je zehn Mark Ordnungsstrafe, ein Gerichtsdiener zahlt für sie und gibt ihnen noch zehn Mark für die Reise. "Beim Gericht, dat waren alles Kameraden", sagt Bikker.

Zwei Tage später bittet Den Haag Bonn offiziell um die Verhaftung und Auslieferung der Flüchtigen. Sie werden zwar rasch gefasst - in die Niederlande kommt aber nur einer zurück: Die britische Militärpolizei entführt Jacob de Jonge, den Deutschland als politischen Flüchtling anerkennt. Die Adenauer-Regierung protestiert erfolglos in London dagegen.

Die anderen Ausbrecher erklärt der Bundesgerichtshof zu Deutschen, die laut Grundgesetz nicht ausgeliefert werden dürfen: Sie haben mit dem Eintritt in die Waffen-SS ihre niederländische Staatsangehörigkeit verloren und die deutsche erworben. Die Rechtsgrundlage ist ein Erlass des "Führers" und Reichskanzlers Adolf Hitler vom 19. Mai 1943.

Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt ab 1954 gegen den Deutschen von Hitlers Gnaden, doch das Landgericht lehnt die Zulassung der Anklage 1957 ab: keine ausreichenden Beweise. Die niederländische Regierung weigert sich, Rechtshilfe zu leisten, weil sie auf der Auslieferung beharrt und die deutschen Gerichte für durchsetzt von alten Nazis hält. Auch die Ermittlungsverfahren gegen alle anderen Flüchtlinge aus Breda werden eingestellt.

Der verurteilte Kriegsverbrecher lebt bist 1961 im Ruhrgebiet, zieht dann nach Ingolstadt. Er arbeitet bis zur Rente bei Auto Union und Audi. Heute wohnt er mit seiner Frau im Ingolstädter Piusviertel, einer anonymen Wohnblock-Gegend. Nachbarn beschreiben ihn als zurückgezogen. Für Journalisten macht er die Tür nicht auf, im Telefonbuch steht er nicht. Aber seit kurzem auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums. Er ersetzt den KZ-Arzt Aribert Heim, der aufgrund von Recherchen der New York Times und des ZDF als wahrscheinlich tot gilt.

Im Sommer 2003 beantragen die Niederlande, dass Faber seine lebenslange Haft aus dem niederländischen Urteil in Deutschland absitzen soll. Doch 2004 befindet das Landgericht Ingolstadt, die Vollstreckung sei nicht zulässig - wegen der ergebnislosen Ermittlungen von 1954. Die Staatsanwaltschaft Ingolstadt hält den Fall für geschlossen. Der 87-Jährige hat wohl nichts mehr zu befürchten.

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