Kirchberg/Greiz – Der
Fall John „Iwan“ Demjanjuk erregt derzeit die Öffentlichkeit.
Der Ukrainer soll während des Zweitne Weltkrieges 29
000 Juden in den Tod geschickt haben.
Jahrelang lebte er unbehelligt in den USA. Jetzt wurde er
nach Deutschland ausgeliefert. Einen ähnlichen Fall
gibt es auch in unserer Region: Algimantas Dailide: Er lieferte
Juden an die Nazis aus. Seine Flucht vor der eigenen Schuld
führte ihn von Litauen über Deutschland in die
USA und Kanada. Heute lebt der 87-jährige in Kirchberg.
In dem kleinen Städtchen laufen viele alte Menschen über
die Straßen aus Kopfsteinpflaster, sodass der 87-jährige
Algimantas Dailide nur demjenigen auffällt, der seine
Vergangenheit und seine Fotos kennt. Dailide ist einer der
letzten noch lebenden Verbrecher des Zweiten Weltkrieges.
Das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem stellte ihn kürzlich
auf die Liste der zehn weltweit meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher.
Von einigen auf der Liste weiß man ungefähr, wo
sie leben. Auch Dailide ist eigentlich nicht schwer zu finden – er
steht mit Nummer und Adresse im deutschen Telefonbuch. Doch
die meisten Bewohner Kirchbergs wissen gar nicht, wer er
ist.
Algimantas Dailide war während des Zweiten Weltkrieges
Mitglied der litauischen Geheimpolizei Saugumas und hatte
Juden, die aus dem Getto von Vilnius fliehen wollten, an
die Nazis ausgeliefert. Etwa 220 000 litauische Juden wurden
damals ermordet. 1944 floh der 23-jährige Dailide vor
den Russen nach Deutschland und heiratete dort eine Frau
aus Greiz. 1950 wanderte das Paar in die USA aus und bekam
zwei Söhne. Die Familie nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft
an und lebte rund 40 Jahre unbehelligt in Cleveland (Ohio).
Dailide arbeitete als Immobilienmakler. Nach der Wende wurden
1991 die litauischen Akten aus den Zeiten der Besatzung durch
die Nationalsozialisten 1941 bis 1944 geöffnet.
US-Staatsbürgerschaft weg
Das amerikanische Office of Special Investigations (OSI),
eine US-Justizbehörde zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern,
begann zu ermitteln. 2001 wurde Dailide die amerikanische
Staatsbürgerschaft aberkannt, weil er bei seiner Einwanderung
gelogen und seine Vergangenheit verschwiegen hatte.
Er floh nach Toronto und landete schließlich 2004
in Kirchberg, wo ein Cousin seiner Frau lebte. Kurze Zeit
später wurde er in Litauen angeklagt, 2006 reiste er
freiwillig zu seinem Prozess nach Vilnius. Das Gericht sprach
ihn schuldig, zwei polnische und zwölf litauische Juden
an die Nationalsozialisten ausgeliefert zu haben, die kurz
darauf vermutlich in einem Vernichtungslager in einem Waldgebiet
nahe Vilnius ermordet wurden. Dailide wurde zu fünf
Jahren Haft verurteilt. Doch weil er nach Ansicht des Gerichts
keine große Gefahr mehr für die Öffentlichkeit
darstellt und wegen seines schlechten Gesundheitszustands
musste er seine Strafe nicht antreten.
Dailide, seit wenigen Monaten Witwer, ist ein hagerer Mann,
dem die Krankheit nicht anzusehen ist. Jeden Morgen gegen
zehn Uhr verlässt er forschen Schrittes das Haus,
um Lebensmittel einzukaufen.
Bereitwillig öffnet er die Tür seiner Zweizimmerwohnung
vis-á-vis des Rathauses. An den Wänden hängen
Fotos seiner acht Enkel und 13 Urenkel. Eins zeigt Dailide
in Florida beim Fischen. Auf dem großen blauen Sofa
im Wohnzimmer liegen bestickte Kissen. „Grandma is
the heart of our family“, Oma ist das Herz unserer
Familie, steht darauf oder „Who needs Santa when you've
got grandma“, wer eine Oma hat, braucht keinen Weihnachtsmann.
Neben litauisch-englischen und englisch-deutschen Wörterbüchern
stehen Ratgeber wie „Ein schmerzfreies Leben in 3 Minuten“.
1945 Greizerin geheiratet
Vor einigen Monaten starb seine Frau an Speiseröhrenkrebs.
Dailide selbst hat sich vor zwei Jahren in Litauen auf Wunsch
des Gerichts einer medizinischen Untersuchung unterzogen. „Ich
wollte, dass man mich freispricht. Aber zur Sicherheit habe
ich mich ärztlich untersuchen lassen“, sagt Dailide,
während er immer wieder vom Deutschen ins Englische
wechselt. „Wer will schon ins Gefängnis wandern?“ Er
leide unter Rückenschmerzen, Prostataproblemen, Bluthochdruck
und Arthritis in den Fingern.
Dailide erzählt, wie er 1940 in Litauen von der Schule
flog, weil er ein Lied sang, das sich gegen Stalin richtete.
Ein Jahr später habe die litauische Geheimpolizei um
neue Mitglieder geworben. „Ich unterschrieb und bekam
einen Bürojob, ich erledigte Schreibarbeit“, sagt
Dailide. „Ich wusste nicht viel über die Dinge,
die damals passierten. Erst später fand ich es heraus.“ Von
der Nacht, in der er laut Gericht die Juden an die Nazis übergab,
schildert er so: Mit drei anderen Mitarbeitern sei er in
einem Lastwagen zu einem Einsatz an den Waldrand gefahren
worden. Passiert sei aber nichts. „Ich ging nach Hause,
und am anderen Morgen hieß es, einige Juden seien geflohen.
Deswegen – und wegen einiger anderer Dinge – haben
sie mich angeklagt.“ Eine Unterschrift Dailides, die
das Gericht als Beweis anführte, wiegt für ihn
nicht schwer. Im Nachhinein habe er sogar alles Lesbare zum
Holocaust verschlungen. Von seiner eigenen Schuld will er
nichts wissen.
Als die Rote Armee 1944 Litauen zurückeroberte, sei
Dailide in einem Pferdewagen gemeinsam mit seinem Onkel nach
Deutschland geflohen. 1945 habe er in Bamberg geheiratet.
Später in Amerika habe er zunächst in einer Brauerei,
dann als Geschäftsmann und schließlich als Immobilienmakler
gearbeitet. „1993 begann das OSI, mich auszufragen“,
sagt Dailide. Später habe er ein Schreiben unterzeichnet,
in dem er seine Schuld gestand. „Ich hatte keine andere
Wahl“, sagt er. 2003 schließlich habe er sein
Auto gepackt, sein Haus verkauft und sei nach Deutschland
gekommen. 2005 bekam Dailide Besuch von deutschen Polizisten,
die im Dienste der litauischen Behörden ausrichteten,
er habe sich für eine Befragung in Vilnius einzufinden.
Trotz der Beteuerung seiner Unschuld lautete das Urteil des
litauischen Gerichts ein Jahr später, Dailide habe „an
der systematischen Judenverfolgung und dem deutschen Plan
ihrer Vernichtung im besetzten Litauen teilgenommen“.
Und: „Obwohl er seine Unschuld beteuert, ist seine
Schuld klar bewiesen.“ In Israel wurde Dailides Verurteilung
begrüßt. Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums
in Jerusalem, hat sich mit der 2002 groß angelegten „Operation:
Last Chance“ vorgenommen, noch lebende NS-Kriegsverbrecher
vor die Richter zu bringen.
Umso größer ist der Aufschrei jüdischer
Menschenrechtsorganisationen, als bekannt wird, dass Dailide
seinen Lebensabend unbehelligt in Deutschland verbringt.
Zuroff spricht von einer Farce. „Die Litauer warten,
bis die Nazi-Verbrecher alt werden. Zwar haben sie Gesetze
erlassen, die es den Behörden ermöglichen, Kriegsverbrecher
zu verhören und zu verurteilen – aber tatsächlich
war bisher nicht ein einziger litauischer NS-Kriegsverbrecher
auch nur eine Minute in Haft. Kein Wunder, dass Neonazis
durch Vilnius ziehen, wenn in einem Land so nachgiebig mit
NS-Verbrechern umgegangen wird.“ Zuroff macht auch
der deutschen Regierung schwere Vorwürfe. „Warum
wird es diesem Mann erlaubt, in Deutschland zu leben? Es
ist nicht schwer, ihn ausfindig zu machen“, so Zuroff. „Offensichtlich
mangelt es an politischem Willen.“
Recht spricht ür Litauer
Doch die Rechtslage spricht für Dailide. Jeder EU-Bürger
hat das Recht auf Freizügigkeit. Wo in Europa er leben
will, kann er selbst bestimmen. Das gilt auch für einen
verurteilten Kriminellen, solange er sich nicht auf der Flucht
befindet. Nur wenn „überwältigende Gründe
des Allgemeinwohls“ einem Aufenthalt eines EU-Bürgers
im eigenen Land im Wege stehen, könne dieser ausgewiesen
werden, heißt es im EU-Vertrag von Nizza. Bei Dailide
ist dies offenbar nicht der Fall. Und solange Litauen keinen
Auslieferungsantrag stellt, besteht für Deutschland
kein Handlungsbedarf. Ein und
So wird Dailide weiter in Kirchberg wohnen, jeden Morgen
gegen zehn Uhr das Haus verlassen, einkaufen und ab und
zu ein Paket seiner Söhne und Enkel aus Amerika in
Empfang nehmen. Die Kirchberger stören sich nicht
daran. „Damals hatten doch alle irgendwie mit den
Nazis zu tun, das war halt so“, sagt eine Nachbarin.
Und der Bürgermeister des Städtchens hat bis
zu der Recherche für diesen Artikel nichts über
die Vergangenheit seines Mitbürgers gewusst.
vogtland-anzeiger.de
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