May 28,2009
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Der "nette" Nazi-Verbrecher aus Kirchberg

Kirchberg/Greiz – Der Fall John „Iwan“ Demjanjuk erregt derzeit die Öffentlichkeit. Der Ukrainer soll während des Zweitne Weltkrieges 29 000 Juden in den Tod geschickt haben.

Jahrelang lebte er unbehelligt in den USA. Jetzt wurde er nach Deutschland ausgeliefert. Einen ähnlichen Fall gibt es auch in unserer Region: Algimantas Dailide: Er lieferte Juden an die Nazis aus. Seine Flucht vor der eigenen Schuld führte ihn von Litauen über Deutschland in die USA und Kanada. Heute lebt der 87-jährige in Kirchberg.
In dem kleinen Städtchen laufen viele alte Menschen über die Straßen aus Kopfsteinpflaster, sodass der 87-jährige Algimantas Dailide nur demjenigen auffällt, der seine Vergangenheit und seine Fotos kennt. Dailide ist einer der letzten noch lebenden Verbrecher des Zweiten Weltkrieges.


Das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem stellte ihn kürzlich auf die Liste der zehn weltweit meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher. Von einigen auf der Liste weiß man ungefähr, wo sie leben. Auch Dailide ist eigentlich nicht schwer zu finden – er steht mit Nummer und Adresse im deutschen Telefonbuch. Doch die meisten Bewohner Kirchbergs wissen gar nicht, wer er ist.


Algimantas Dailide war während des Zweiten Weltkrieges Mitglied der litauischen Geheimpolizei Saugumas und hatte Juden, die aus dem Getto von Vilnius fliehen wollten, an die Nazis ausgeliefert. Etwa 220 000 litauische Juden wurden damals ermordet. 1944 floh der 23-jährige Dailide vor den Russen nach Deutschland und heiratete dort eine Frau aus Greiz. 1950 wanderte das Paar in die USA aus und bekam zwei Söhne. Die Familie nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an und lebte rund 40 Jahre unbehelligt in Cleveland (Ohio). Dailide arbeitete als Immobilienmakler. Nach der Wende wurden 1991 die litauischen Akten aus den Zeiten der Besatzung durch die Nationalsozialisten 1941 bis 1944 geöffnet.



US-Staatsbürgerschaft weg

Das amerikanische Office of Special Investigations (OSI), eine US-Justizbehörde zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern, begann zu ermitteln. 2001 wurde Dailide die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt, weil er bei seiner Einwanderung gelogen und seine Vergangenheit verschwiegen hatte.

Er floh nach Toronto und landete schließlich 2004 in Kirchberg, wo ein Cousin seiner Frau lebte. Kurze Zeit später wurde er in Litauen angeklagt, 2006 reiste er freiwillig zu seinem Prozess nach Vilnius. Das Gericht sprach ihn schuldig, zwei polnische und zwölf litauische Juden an die Nationalsozialisten ausgeliefert zu haben, die kurz darauf vermutlich in einem Vernichtungslager in einem Waldgebiet nahe Vilnius ermordet wurden. Dailide wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Doch weil er nach Ansicht des Gerichts keine große Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt und wegen seines schlechten Gesundheitszustands musste er seine Strafe nicht antreten.


Dailide, seit wenigen Monaten Witwer, ist ein hagerer Mann, dem die Krankheit nicht anzusehen ist. Jeden Morgen gegen zehn Uhr verlässt er forschen Schrittes das Haus, um Lebensmittel einzukaufen.


Bereitwillig öffnet er die Tür seiner Zweizimmerwohnung vis-á-vis des Rathauses. An den Wänden hängen Fotos seiner acht Enkel und 13 Urenkel. Eins zeigt Dailide in Florida beim Fischen. Auf dem großen blauen Sofa im Wohnzimmer liegen bestickte Kissen. „Grandma is the heart of our family“, Oma ist das Herz unserer Familie, steht darauf oder „Who needs Santa when you've got grandma“, wer eine Oma hat, braucht keinen Weihnachtsmann. Neben litauisch-englischen und englisch-deutschen Wörterbüchern stehen Ratgeber wie „Ein schmerzfreies Leben in 3 Minuten“.


1945 Greizerin geheiratet

Vor einigen Monaten starb seine Frau an Speiseröhrenkrebs. Dailide selbst hat sich vor zwei Jahren in Litauen auf Wunsch des Gerichts einer medizinischen Untersuchung unterzogen. „Ich wollte, dass man mich freispricht. Aber zur Sicherheit habe ich mich ärztlich untersuchen lassen“, sagt Dailide, während er immer wieder vom Deutschen ins Englische wechselt. „Wer will schon ins Gefängnis wandern?“ Er leide unter Rückenschmerzen, Prostataproblemen, Bluthochdruck und Arthritis in den Fingern.


Dailide erzählt, wie er 1940 in Litauen von der Schule flog, weil er ein Lied sang, das sich gegen Stalin richtete. Ein Jahr später habe die litauische Geheimpolizei um neue Mitglieder geworben. „Ich unterschrieb und bekam einen Bürojob, ich erledigte Schreibarbeit“, sagt Dailide. „Ich wusste nicht viel über die Dinge, die damals passierten. Erst später fand ich es heraus.“ Von der Nacht, in der er laut Gericht die Juden an die Nazis übergab, schildert er so: Mit drei anderen Mitarbeitern sei er in einem Lastwagen zu einem Einsatz an den Waldrand gefahren worden. Passiert sei aber nichts. „Ich ging nach Hause, und am anderen Morgen hieß es, einige Juden seien geflohen.

Deswegen – und wegen einiger anderer Dinge – haben sie mich angeklagt.“ Eine Unterschrift Dailides, die das Gericht als Beweis anführte, wiegt für ihn nicht schwer. Im Nachhinein habe er sogar alles Lesbare zum Holocaust verschlungen. Von seiner eigenen Schuld will er nichts wissen.


Als die Rote Armee 1944 Litauen zurückeroberte, sei Dailide in einem Pferdewagen gemeinsam mit seinem Onkel nach Deutschland geflohen. 1945 habe er in Bamberg geheiratet. Später in Amerika habe er zunächst in einer Brauerei, dann als Geschäftsmann und schließlich als Immobilienmakler gearbeitet. „1993 begann das OSI, mich auszufragen“, sagt Dailide. Später habe er ein Schreiben unterzeichnet, in dem er seine Schuld gestand. „Ich hatte keine andere Wahl“, sagt er. 2003 schließlich habe er sein Auto gepackt, sein Haus verkauft und sei nach Deutschland gekommen. 2005 bekam Dailide Besuch von deutschen Polizisten, die im Dienste der litauischen Behörden ausrichteten, er habe sich für eine Befragung in Vilnius einzufinden.


Trotz der Beteuerung seiner Unschuld lautete das Urteil des litauischen Gerichts ein Jahr später, Dailide habe „an der systematischen Judenverfolgung und dem deutschen Plan ihrer Vernichtung im besetzten Litauen teilgenommen“. Und: „Obwohl er seine Unschuld beteuert, ist seine Schuld klar bewiesen.“ In Israel wurde Dailides Verurteilung begrüßt. Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, hat sich mit der 2002 groß angelegten „Operation: Last Chance“ vorgenommen, noch lebende NS-Kriegsverbrecher vor die Richter zu bringen.

Umso größer ist der Aufschrei jüdischer Menschenrechtsorganisationen, als bekannt wird, dass Dailide seinen Lebensabend unbehelligt in Deutschland verbringt.
Zuroff spricht von einer Farce. „Die Litauer warten, bis die Nazi-Verbrecher alt werden. Zwar haben sie Gesetze erlassen, die es den Behörden ermöglichen, Kriegsverbrecher zu verhören und zu verurteilen – aber tatsächlich war bisher nicht ein einziger litauischer NS-Kriegsverbrecher auch nur eine Minute in Haft. Kein Wunder, dass Neonazis durch Vilnius ziehen, wenn in einem Land so nachgiebig mit NS-Verbrechern umgegangen wird.“ Zuroff macht auch der deutschen Regierung schwere Vorwürfe. „Warum wird es diesem Mann erlaubt, in Deutschland zu leben? Es ist nicht schwer, ihn ausfindig zu machen“, so Zuroff. „Offensichtlich mangelt es an politischem Willen.“


Recht spricht ür Litauer

Doch die Rechtslage spricht für Dailide. Jeder EU-Bürger hat das Recht auf Freizügigkeit. Wo in Europa er leben will, kann er selbst bestimmen. Das gilt auch für einen verurteilten Kriminellen, solange er sich nicht auf der Flucht befindet. Nur wenn „überwältigende Gründe des Allgemeinwohls“ einem Aufenthalt eines EU-Bürgers im eigenen Land im Wege stehen, könne dieser ausgewiesen werden, heißt es im EU-Vertrag von Nizza. Bei Dailide ist dies offenbar nicht der Fall. Und solange Litauen keinen Auslieferungsantrag stellt, besteht für Deutschland kein Handlungsbedarf. Ein und


So wird Dailide weiter in Kirchberg wohnen, jeden Morgen gegen zehn Uhr das Haus verlassen, einkaufen und ab und zu ein Paket seiner Söhne und Enkel aus Amerika in Empfang nehmen. Die Kirchberger stören sich nicht daran. „Damals hatten doch alle irgendwie mit den Nazis zu tun, das war halt so“, sagt eine Nachbarin. Und der Bürgermeister des Städtchens hat bis zu der Recherche für diesen Artikel nichts über die Vergangenheit seines Mitbürgers gewusst.

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