22. Mai 2009, 03:22 Uhr
welt.de
Das Zentrum der Vergangenheitsbewältigung
Von Sven Felix Kellerhoff

In Ludwigsburg ermittelt die Zentrale Stelle der Justizverwaltungen seit 1958 gegen NS-Verbrecher. Noch gibt es gut 80 Verdächtige

Ein Gefängnis ist nie ein angenehmer Arbeitsplatz - nicht einmal ein ausgemustertes Zuchthaus wie das Frauengefängnis an der Schorndorfer Straße im baden-württembergischen Ludwigsburg. Zurückgesetzt von der Hauptstraße, scheint sich der dreistöckige gelb-weiße Bau hinter der abweisenden Mauer mit der kleinen Pforte zu ducken. Nicht einmal das Dach mit angedeutetem Turm mildert seine trutzige Unnahbarkeit.

Eingesperrt wird hier zwar schon seit mehr als einem halben Jahrhundert niemand mehr. Dennoch steht die Freiheitsstrafe im Mittelpunkt der Arbeit der knapp 20 Angestellten. Denn an der Schorndorfer Straße hat die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" ihren Sitz. Ludwigsburg ist das Zentrum der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland - jedenfalls was die Nazi-Zeit angeht.

1,672 Millionen Karten umfasst die Kartei, die hier in den vergangenen 50 Jahren zusammengetragen wurde. Nirgendwo sind mehr Namen von mutmaßlichen Tätern oder potenziellen Zeugen und mehr Tatorte des Holocaust und anderer Verbrechen des Dritten Reiches verzeichnet als hier. Im Verlauf der Zeit haben Hunderte Staatsanwälte mitgewirkt an der größten nach Maßstäben des Rechtsstaates betriebenen Aufarbeitung der Vergangenheit, manche davor fast ihr ganzes Berufsleben lang.

Nach dem Titel eines Buches von Ralph Giordano gilt die unbefriedigende juristische Ahndung der Nazi-Gräuel als Deutschlands "zweite Schuld" - und doch hat nie zuvor ein Staat auch nur annähernd so viel Energie und Geld in die Bestrafung von Verbrechen gesteckt, die im staatlichen Auftrag begangen wurden.

In den inzwischen 50 Jahren und sechs Monaten ihrer Existenz hat die Zentrale Stelle 7401 Vorermittlungsverfahren eröffnet; davon wurden 7377 an eine zuständige Staatsanwaltschaft abgegeben. Gemessen an der Gesamtzahl von Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen (etwa 106 000), klingt das wenig, doch waren es oft die besonders komplexen Verfahren, die in Ludwigsburg vorbereitet wurden.

Ohne die Zentrale Stelle wäre es nie zur Auslieferung von John Demjanjuk gekommen. Ein andere bekannter Fall ist das Urteil gegen den früheren KZ-Kommandanten Josef Schwammberger, der 1992 in Stuttgart zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und Ende 2004 im Haftkrankenhaus starb. Dagegen stellte das Landgericht Gera 2005 den Prozess gegen die mutmaßliche Euthanasietäterin Rosemarie Albrecht ein. Sie war in der DDR eine prominente Kinderärztin gewesen und von der Stasi trotz einer Anfrage aus Ludwigsburg gedeckt worden.

Das war nicht die einzige Niederlage der Staatsanwälte im Frauengefängnis. Im Mai 1969 zum Beispiel stellte der Bundesgerichtshof den großen Prozess gegen insgesamt 294 Schreibtischtäter der Berliner Gestapo ein - vorangegangen war eine trickreiche Gesetzesänderung, mit der einige Juristen im Bundesjustizministerium indirekt einen Schlussstrich unter alle NS-Verbrechen außer Mord oder Beihilfe zum Mord gezogen hatten.

Heute sind noch 24 Ermittlungsverfahren in Ludwigsburg anhängig, und auf gut 60 weitere mutmaßliche Fälle hat der Leiter der Zentra-len Stelle, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, ein besonderes Auge: "Es ist absehbar, dass unsere Arbeit dem Ende zugeht, aber wir machen so lange weiter, wie die Möglich-keit zur strafrechtlichen Aufklärung besteht."

Doch mit dem tatsächlichen und endgültigen biologischen Ende der Strafprozesse gegen NS-Täter endet nicht die Geschichte von Ludwigsburg als Zentrum der Aufarbeitung. Schon seit neun Jahren übernimmt das Bundesarchiv Bestände der Zentralen Stelle, wofür sie keinen Millimeter bewegt werden müssen; da eigens dafür eine Außenstelle eingerichtet worden ist. Und damit auch die Auswertung künftig nicht zu kurz kommt, hat die Universität Stuttgart eine Forschungsabteilung eingerichtet, die schon 13 Bände mit aktuellen Forschungen herausgegeben hat.

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