28. Mai 2009
nzz.ch
Beweise sammeln über NS-Verdächtige wie Demjanjuk
Historische Aufklärungsarbeit durch die Mitarbeiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg

Seit gut 50 Jahren wird von der deutschen Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in in- wie ausländischen Archiven nach Beweisen für NS-Greueltaten gefahndet. So konnten auch zuvor unbekannte Ereignisse entdeckt sowie Täter vor Gericht gebracht werden.

slz. Ludwigsburg, Ende Mai


Dass der gebürtige Ukrainer Iwan Demjanjuk nun doch noch in München für seine Aufsehertätigkeit im Vernichtungslager der Nazis in Sobibor vor Gericht steht, ist einer Behörde in Ludwigsburg zu verdanken. Diese trägt den sperrigen Namen «Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen» und ist seit 1958 das deutsche Herzstück der juristischen Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen. Dabei konzentriert sie sich laut ihrem Gründungsauftrag auf Verbrechen ausserhalb der eigentlichen Kriegshandlungen, die von Deutschen oder von Ausländern im Auftrag der Nazi-Kommandanten verübt worden sind. Wegen Verjährungsfristen können seit Mai 1960 nur noch Morde verfolgt werden.

«Belastend, aber notwendig»
Wenn man das Gebäude, ein ehemaliges Frauengefängnis wenige Gehminuten vom prächtigen Ludwigsburger Barockschloss entfernt, betritt, empfängt einen normale Behördenatmosphäre – nichts lässt darauf schliessen, dass man hier seit Jahrzehnten grauenvollen Taten auf der Spur ist. Doch im Gespräch mit den Mitarbeitern wird einem schnell klar, dass hier kein einfacher Bürojob geleistet wird. Denn der Auftrag lautet: Alles im In- und Ausland erreichbare Material über NS-Verbrecher und -Verbrechen zu sichten und auszuwerten. Und das bedeutet, sich täglich mit den eigentlich unvorstellbaren Zuständen in Vernichtungslagern oder den Massenerschiessungen von Juden im Osten zu beschäftigen.

Als Joachim Riedel, stellvertretender Leiter der Zentralen Stelle, letzten Herbst in Moskau war, um dort erbeutetes deutsches und jahrelang geheim gehaltenes Archivmaterial des KGB auszuwerten, erhielt er auch detaillierte Angaben über die Transporte von Juden in die östlichen Vernichtungslager, wie er im Gespräch erzählt. «Das ist mir echt an die Nieren gegangen, obwohl ich doch seit Jahren mit der Thematik vertraut bin.» Auch die Sondierung von in Colmar aufbewahrten und erst kürzlich an Deutschland ausgehändigten Dokumenten hat Riedel zugesetzt. Denn dabei fand er ein mehrbändiges «Handbuch» aus der Gestapozentrale mit Anweisungen über den Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen oder ausländischen Zwangsarbeitern, die sich mit deutschen Frauen eingelassen hatten. Solche Anweisungen zum Foltern und Töten seien schon erschütternd, erzählt der Jurist mit leiser Stimme.

Doch Riedel ist überzeugt, dass dieses Dokumenten-Studium in doppelter Hinsicht unbedingt getan werden muss. Denn erstens könne man durch derartige Auswertungen Hinweise auf Täter, mögliche Zeugen oder noch unbekannte Verbrechen erlangen. Deshalb gingen die Mitarbeiter der Zentralen Stelle auch nicht ausschliesslich eingegangenen Hinweisen über mögliche Täter oder Anfragen aus anderen Staaten nach, sondern suchten wenn immer möglich auch aus eigenem Antrieb Archive auf und fahndeten nach potenziell hilfreichen Hinweisen ohne konkretes Verfahren. Zweitens sei es für die historische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der dort begangenen systematischen Greueltaten von grosser Bedeutung, wenn man so viele Details wie nur irgend möglich kenne, ist Riedel überzeugt.

Und die Arbeit der Ludwigsburger hat in den gut 50 Jahren des Bestehens der Zentralen Stelle auch zu sichtbaren Ergebnissen geführt. So hat man Beweise für mehr als 7400 Ermittlungsverfahren gesammelt, viele davon Sammelverfahren mit mehreren Angeklagten. Zudem wurden 113 419 Überprüfungs- und Rechtshilfevorgänge sowie Auskünfte bearbeitet. Insgesamt wurden in Deutschland über 6000 Personen wegen NS-Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, in sehr vielen dieser Fälle hatte die Zentrale Stelle wichtiges Beweismaterial geliefert oder die Prozesse überhaupt erst ermöglicht.

Zugang zu Archiven oftmals schwierig
Man weiss jedoch auch in Ludwigsburg, dass es wesentlich mehr Täter gab, die während der NS-Zeit aus Rassenhass, in Euthanasieprogrammen oder bei Massenerschiessungen von Bürgern besetzter Staaten gemordet hatten. Doch Riedel verweist darauf, dass es oftmals technisch schwierig ist und war, eindeutige Beweise für eine Schuld zu erbringen. So könne man erst seit 1990 oder sogar noch später Einblick in die Archive der ehemaligen Ostblockstaaten nehmen. Zudem war es gerade auch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik keineswegs immer erwünscht, in der braunen Vergangenheit zu stochern und Täter zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen.

Aber auch andere Staaten wollten keine Ermittlungen über auf ihrem Staatsgebiet von Deutschen begangene Morde, weil man dann eigene Landsleute, die ebenfalls ausserhalb ihrer Heimat zu Tätern geworden waren, auch hätte belangen müssen. Deshalb hätten zum Beispiel in Italien viele wichtige Dokumente jahrzehntelang in Giftschränken in Archivkellern ungelesen geschmort, sagt Riedel. Nicht nur die Mitarbeiter in Ludwigsburg wissen, dass es allein aufgrund der Zeit, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen ist, immer schwieriger wird, noch lebende Täter – wie auch lebende Zeugen mit einem intakten Erinnerungsvermögen – aufzuspüren. Doch dies sei kein Grund, jetzt mit der Tätigkeit aufzuhören, davon ist man in Ludwigsburg überzeugt. Denn neben dem Auftrag zur historischen Aufklärung gebe es auch heute noch die Chance, Täter zu überführen. So kommen nach vorsichtigen Schätzungen noch einige Dutzend Fälle der Zentralen Stelle für eine Abgabe an die Staatsanwaltschaften in Betracht. Denn da die Ludwigsburger Behörde nicht selber Anklage erheben darf, muss sie die gesammelten Beweise dorthin überweisen.

Der für den Fall Demjanjuk zuständige Ludwigsburger Jurist erläutert im Gespräch die vielfältigen Schwierigkeiten, die seine Suche nach Beweisen in Archiven und der realen Welt mit sich brachte. Und er liefert auch gleich eine Erklärung, warum es so lange gedauert hat, bis nun Demjanjuk endlich doch noch der Prozess für seine Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor gemacht wird. Schliesslich war der gebürtige Ukrainer keineswegs all die Jahrzehnte untergetaucht. Der seit 1952 in den Vereinigten Staaten lebende Mann wurde sogar schon 1988 in Jerusalem zum Tode verurteilt. Damals glaubten die Richter, dass er der «Iwan der Schreckliche» genannte Aufseher im Konzentrationslager Treblinka gewesen sei.

Weil jedoch Zweifel an dieser Identität aufkamen, musste man Demjanjuk sieben Jahre später wieder freilassen. Und obwohl damals schon sein Dienstausweis des Vernichtungslagers Sobibor aktenkundig gewesen war, in welchem die Einsatzorte der Wachmänner mit dem Zeitpunkt der Versetzung eingetragen waren, hatte man sich in Jerusalem nach der Pleite des ersten Prozesses gegen einen zweiten solchen entschieden. Zudem war es Anfang der 1990er Jahre in Deutschland politisch wie gesellschaftlich nicht erwünscht, die eventuelle Schuld von Staatsangehörigen der von Nazis besetzten Staaten, die von den neuen Herren zu Diensten in Konzentrationslagern oder bei Massenerschiessungen abkommandiert worden waren, genauer zu untersuchen.

Zufallsfund im Internet
Doch als man im März vergangenen Jahres zufällig im Internet auf einer internen Seite einer amerikanischen Behörde gelesen hatte, dass Demjanjuk die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, war die Zeit offenbar reif für intensive Recherchen seitens der Zentralen Stelle. Und obwohl er eigentlich kurz darauf in den Ruhestand hätte gehen sollen, habe ihn der Fall derart beschäftigt, dass er ihn im Angestelltenverhältnis zu Ende gebracht habe, erzählte der Mitarbeiter im Gespräch. Nun liege deutlich mehr Beweismaterial gegen Demjanjuk vor als noch vor zehn Jahren, zudem wisse man viel mehr über die Zustände in Vernichtungslagern wie Sobibor, so dass sich dort tätige Personen nicht mehr mit Nichtwissen oder Unbeteiligtsein herausreden könnten.

Momentan bearbeitet man in Ludwigsburg noch zwei weitere Fälle von sogenannt fremdvölkischen Hilfswilligen, die vermutlich beim Abtransport und bei dabei durchgeführten Tötungen von Juden im Ghetto Lemberg beziehungsweise bei Massenerschiessungen im östlichen Polen mitgewirkt hatten. Sollte es zu Anklagen kommen, so wäre dies ein weiterer Beitrag zur nach wie vor aktuellen und notwendigen juristischen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen.

nzz.ch