14.05.2009 - 02:30
nachrichten.rp-online.de
Gesuchte NS-Verbrecher
VON FRANK VOLLMER

Aus den Top Ten des Wiesenthal-Zentrums mit den meistgesuchten Nazis ist John Demjanjuk gestrichen. Die Liste dient heute mindestens so sehr historischer Aufklärung wie der Strafverfolgung.

Düsseldorf Wieder ein Name weniger. John Demjanjuk kann von der Liste der meistgesuchten NS-Täter gestrichen werden. Der seit gestern in München inhaftierte mutmaßliche Aufseher im Vernichtungslager Sobibor war Nummer eins der wichtigsten NS-Verbrecher, die noch in Freiheit sind. Die Liste wird veröffentlicht vom Simon-Wiesenthal-Zentrum, einer jüdischen Menschenrechtsorganisation, die sich die Suche nach untergetauchten Handlangern des Holocaust auf die Fahnen geschrieben hat.

Auf der Liste standen früher Namen wie der von Josef Mengele, dem Lagerarzt von Auschwitz, der 1979 beim Baden in Brasilien ertrank, und von Franz Stangl, dem Kommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, 1970 in Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt, ein Jahr später verstorben. 2009 jedoch fehlen prominente Namen: Die meisten Täter sind tot oder zur Rechenschaft gezogen. Der Rest sei selbst Spezialisten "weitgehend unbekannt", sagt Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut zur Erforschung des Holocaust in Frankfurt am Main unserer Zeitung. Dennoch – ihre Untaten lesen sich wie eine Kurzfassung des Menschheitsverbrechens Holocaust. Beispiele:

Nummer 1 – Sandor Kepiro Der ungarische Gendarmerie-Offizier, Jahrgang 1914, soll 1942 an der Ermordung von 1200 Zivilisten in Serbien beteiligt gewesen sein. Er lebt in Ungarn; dort laufen Ermittlungen.

Nummer 2 – Milivoj Asner Geboren 1913 in Kroatien. Er war Chef der faschistischen Ustascha-Polizei in Pozega in Kroatien und soll für die Ermordung Hunderter Serben, Juden und Zigeuner verantwortlich sein. Österreich verhindert die Auslieferung an Kroatien.

Nummer 3 – Sören Kam 1921 in Kopenhagen geboren. Der SS-Mann soll bei der Deportation dänischer Juden geholfen haben; darüber laufen Untersuchungen in Dänemark. Er lebt in Bayern; eine Auslieferung wegen Ermordung eines Journalisten 1943 scheiterte 2007.

Die weiteren sechs sollen am Judenmord in den Niederlanden, Ungarn, Litauen, Estland und Weißrussland mitgewirkt haben. "Es geht heute vor allem um Einzeltaten", sagt Renz: "Das ist mit früheren Jahrzehnten nicht mehr zu vergleichen."

Außerhalb der Listen-Nummerierung führt das Wiesenthal-Zentrum zwei Namen: Aribert Heim, SS-Arzt in mehreren KZs, und Alois Brunner, rechte Hand Adolf Eichmanns bei der Deportation der Juden in die Vernichtungslager. Beide sind vermutlich tot – Heim soll 1992 als freier Mann in Kairo gestorben sein, Brunner wurde zuletzt 2001 in Syrien gesehen. Endgültige Beweise für beider Tod gibt es jedoch nicht.

Mangelnder politischer Wille sei das größte Hindernis, NS-Verbrecher zu bestrafen, heißt es im aktuellen Wiesenthal-Bericht von Ende April. Kritisiert werden namentlich Ungarn, Litauen und Österreich. Das Zentrum führt eine "Schwarze Liste" von Ländern, die nicht kooperieren oder keine Anstrengungen zur Verfolgung von Nazis unternehmen. Mit Costa Rica und Bolivien sind das etwa Frankreich, Belgien und Russland. Deutschland steht mit Spanien und Serbien in der zweithöchsten Kategorie ("Laufende Untersuchung und Verfolgung"). Die höchste Kategorie ("Sehr erfolgreich") besetzen allein die USA.

Das Wiesenthal-Zentrum und die von ihm initiierte "Operation Letzte Chance" loben für Hinweise auf NS-Verbrecher bis zu 10 000 Euro Belohnung aus. Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, hält die Wiesenthal-Liste für "gut gemeint", auch wenn ihm aus den letzten Jahren kein wirklicher Wiesenthal-Erfolg bekannt sei. "Ich kann mir nicht vorstellen", sagt Schrimm unserer Zeitung, "dass eine Belohnung jemanden umstimmt, nach so langer Zeit sein Schweigen zu brechen." Seine Mitarbeiter hätten ganz andere Motive kennen gelernt – Gewissenbisse ehemaliger SS-Leute etwa, die sich erst heute von ihrem Eid auf Adolf Hitler entbunden fühlten.

Mit einem Kopfgeld habe die Belohnung nichts zu tun, sagt der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, unserer Zeitung. Wer Wiesenthal gekannt habe, wisse, dass es ihm um Gerechtigkeit statt um Rache gegangen sei, zumal viele staatliche Stellen nach 1945 bei der Verfolgung von NS-Verbrechen "kläglich versagt" hätten.

Grundsätzlich sei die Liste hilfreich, erklärt Werner Renz – "auch wenn sie vielleicht nicht mehr zur Strafverfolgung führt, sondern nur zu historischen Erkenntnissen". Wo tauchten die Nazis unter? Wer deckte sie? Solche Fragen bleiben brisant, auch wenn die Täter tot sind. Aber dass einer der verbliebenen neun der Wiesenthal-Liste noch vor Gericht gestellt wird – das, sagt Renz, halte er für "äußerst unwahrscheinlich".

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