06. März 2009, 07:24 Uhr spiegel.de
"Stark wie ein Ochse"
Aus Cleveland berichtet Cordula Meyer

Ist der mutmaßliche KZ-Aufseher Iwan "John" Demjanjuk gesund genug für einen Prozess? Die Staatsanwaltschaft München erwägt Haftbefehl gegen den Rentner, der in Amerika lebt. Seine Familie fürchtet die Auslieferung - und betont den schlechten Zustand des 88-Jährigen.

Cleveland - Die Frau des angeblichen KZ-Wärters ist eine zierliche und sehr freundliche Person. Sie trägt eine blau-grün karierte Bluse, ihr langes Haar ist zu einem Dutt gewunden. Ein wenig verloren steht sie an der Tür ihres gelben Farmhauses in Seven Hills, einem Vorort von Cleveland in Ohio.


Vera Demjanjuk spricht ein Mischmasch aus Deutsch und Englisch, und sie sieht sehr müde aus, als sie erzählt, dass es jetzt wohl wieder losgeht, dass sie jetzt wieder um ihren Mann John fürchten müsse. Die Familie habe nicht die Kraft und Reserven für einen neuen Prozess, schon gar nicht im fernen Deutschland. "Wir sind arm und haben kein Geld."

1977 geriet ihr Mann John Demjanjuk, der heute 88 Jahre alt ist, erstmals ins Visier amerikanischer Nazi-Jäger. Damals verlor der ehemalige Autobauer, der bei Ford beschäftigt gewesen war, seine Staatsbürgerschaft, die USA lieferten ihn nach Israel aus, die Israelis wollten ihn hinrichten. Der Vorwurf: Demjanjuk sei "Iwan der Schreckliche" gewesen, grausamer Operateur der Gaskammern im Konzentrationslager Treblinka.

"Ein kranker alter Mann"

1993 wurde Demjanjuk allerdings freigesprochen - weil es sich bei "Iwan dem Schrecklichen" mit ziemlicher Sicherheit doch um jemand anderen handelte. Demjanjuk durfte nach Cleveland zurückkehren - nur hatten sich unterdessen die Hinweise gemehrt, dass er stattdessen Wärter im KZ Sobibor im heutigen Polen war. Deshalb erwägt die Staatsanwaltschaft München nun, ihn in Deutschland vor Gericht zu stellen. Der mutmaßliche KZ-Wärter soll am Tod von 29.000 Menschen beteiligt gewesen sein.

Demjanjuk ist staatenlos, im Mai vergangenen Jahres hat der US Supreme Court alle seine Einsprüche endgültig abgelehnt. Theoretisch kann Demjanjuk deshalb jetzt jederzeit nach Deutschland gebracht werden.

Erst kürzlich kamen Experten des Landeskriminalamts Bayern zu dem Schluss, Demjanjuks Dienstausweis, der ihn in Sobibor verortet, sei echt. Ein wichtiger Schritt, um ihn in Deutschland anklagen zu können.

Nur: Ist der 88-Jährige überhaupt noch prozessfähig? Demjanjuks Sohn John Junior sagt, sein Vater sei "sehr gebrechlich". Er leide an einer "Blut- und Knochenmarkkrankheit" und müsse deswegen einige Male pro Monat ins Krankenhaus, er brauche regelmäßig Bluttransfusionen. Sein Zustand habe sich im Laufe der vergangenen Jahre verschlimmert, er glaube nicht, dass der Vater einen Prozess durchstehen könne.

Wenn die deutsche Justiz trotzdem irgendwie durchsetzen könne, ihn nach Deutschland zu holen, brauche er "medizinische Betreuung rund um die Uhr". Auch Demjanjuks Anwalt John Broadley sagt, dass sein Mandat "ein kranker alter Mann" sei. Aber: Darauf, dass er krank sei, beruft sich Demjanjuks Familie schon seit Jahrzehnten. Manchmal ließ er sich im Rollstuhl in den Gerichtssaal fahren.

"Gigantischer Kerl, breitschultrig, mit großen Pranken"

Vor neun Jahren vernahm ihn der Staatsanwalt Jonathan Drimmer in jenem Verfahren, in dem Demjanjuk am Ende die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. "Da war er immer noch ein gigantischer Kerl", sagt Drimmer: hochgewachsen, breitschultrig, mit großen Pranken. Demjanjuk habe damals einen ganzen Tag lang ausgesagt. "Am Ende war ich erschöpft - aber er war stark. Damals, 2000, war er stark wie ein Ochse."

Heute wirke er schon deutlich wie ein 88-jähriger Mann, sagt jedoch Demjanjuks Nachbar Erik Keller, ein junger Grafikdesigner, mit dem Demjanjuk oft ein Schwätzchen hält. Der alte Mann könne nicht mehr gut stehen und gehen, habe Probleme mit den Knien, aber erst kürzlich nach einem Schneesturm "hat er noch in der Einfahrt Schnee geschippt", sagt Familienvater Keller. Er selbst habe Demjanjuk dabei geholfen. Im Rollstuhl habe er ihn noch nie gesehen.

Demjanjuk arbeite im Sommer oft in Jeans und Sweatshirt in seinem großen Gemüsegarten. Ehefrau Vera bringe gelegentlich auch mal Tomaten vorbei. "Sie sind sehr nachbarschaftlich." Demjanjuk sei stolz auf den Garten und spreche oft von seiner Arbeit bei Ford.

Auf die Vergangenheit vor dieser Vergangenheit, sagt Nachbar Keller, habe er Demjanjuks nie angesprochen - und darauf sei sein Nachbar auch nie von sich aus gekommen. Er freue sich offensichtlich über ein kleines nachbarschaftliches Palaver, denn "er spricht nicht mit vielen Leuten."

Die Hausnummer, die bei allen Nachbarn groß am Briefkasten prangt, ist bei den Demjanjuks klein angebracht. Vor dem Haus steht ein großes Schild "Betreten verboten". Das Eigenheim mit angebauter Garage, Wintergarten und großem Garten ist besser in Schuss als die meisten in der Straße - obwohl Demjanjuk mit seiner Staatsbürgerschaft auch seine gesetzliche Rente verloren hat und von der Unterstützung seiner Kinder lebt.

Seven Hills ist ein Vorort von Cleveland, der einst boomenden Industriestadt, die heute eine der ärmsten Großstädte Amerikas ist. Irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg war das Viertel mit seinen hingeduckten Farmhäusern aus Holz und Backstein ein Stück des amerikanischen Traums.

"Mein Papa hat in seinem Leben niemanden umgebracht"

Heute ist es auch ein Alptraum, mit verschlossenen Garagentoren, zugezogenen Gardinen und rostenden Briefkästen. Niemand ist auf der Straße zu sehen, nur alle 20 Minuten kommt mal ein Auto vorbei. Seven Hillas ist wie ausgestorben, nur in der Ferne rauscht der Verkehr über die Interstate.

Sein Vater kümmere sich nicht allzu sehr um das, worüber in Deutschland gesprochen werde, behauptet John Demjanjuk Junior. "Er beschäftigt sich mit seiner Gesundheit und damit, am Leben zu bleiben für die letzten paar Jahre." Es gebe keine Anhaltspunkte, "anhand derer mein Vater in einem Strafgerichtsprozess verurteilt werden könnte".

Der Sohn hat sich die Verteidigung seines Vaters zur Lebensaufgabe gemacht. "Mein Papa hat in seinem Leben niemanden umgebracht. Es gibt keine Beweise, dass er irgendetwas damit zu tun gehabt hat", beteuert der Junior. "Er ist kein Mörder. Er ist eine sehr sanfte und freundliche Person. Ich weiß aus tiefem Herzen, dass er niemanden umgebracht hat. Er war ein Soldat der Roten Armee, der sich darin verfangen hat, was im Zweiten Weltkrieg passierte."

Demjanjuk Junior glaubt an die Unschuld seines Vaters, er sagt, dieses Wissen habe ihm Kraft gegeben all die Jahre, für seinen Vater zu kämpfen. Er nennt die Verbrechen des Holocaust "entsetzlich", aber "darum geht es nicht."

Keine Erklärung, wie die Spuren in die Akten kamen

Darum gehe es schon, glauben jedoch amerikanische und deutsche Staatsanwälte. Sieben wasserdichte Beweise habe er dafür, dass Demjanjuk im KZ gedient hat, sagt der amerikanische Ex-Staatsanwalt Drimmer. Sieben Dokumente aus verschiedenen Archiven, von verschiedenen Dienststellen. Da gebe es wenig Raum für Verwechslungen, da könne niemand Demjanjuk etwas untergeschoben haben. Nein, die Sache sei eindeutig. Nur heiße das lange nicht, dass ihm auch noch jetzt, 63 Jahre nach Kriegsende, dafür der Prozess gemacht werden könne.

Eine halbwegs plausible Erklärung dafür, wie die Spuren seines angeblich ja unschuldigen Vaters in die Akten gekommen sein könnten, hat Demjanjuk Junior nicht. Er sagt nur, dass im Strafprozess in Deutschland die Beweislast viel höher sei als im amerikanischen Prozess, in dem es nur um die Aberkennung der Staatsbürgerschaft ging. Er sagt auch, dass die Deutschen keinen einzigen lebenden Augenzeugen mehr haben. Und dass sein Vater sowieso viel zu krank sei.

Nur darüber, wie es wirklich gewesen sein könnte, darüber sagt er nichts.

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