20.02.2009 05:00 Uhr sueddeutsche.de
  Jeder Monat zählt
NS-Prozesse: Münchens Staatsanwaltschaft wehrt sich gegen Vorwürfe von Kollegen, sie verzögere das Verfahren gegen Iwan Demjanjuk
Von Joachim Käppner und Robert Probst

 
 

Der Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm ist ein gelassener Mann. Gefühlsausbrüche kann er sich auch gar nicht leisten. Das Grauen, mit dem er sich täglich befasst, erfordert jemanden, der Herr seiner Emotionen ist. Schrimm leitet die Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechern in Ludwigsburg nahe Stuttgart; von seinem Büro aus, gut geschützt hinter den Mauern eines früheren Frauengefängnisses, koordiniert er die Fahndung nach Nazi- und Kriegsverbrechern.

Jetzt aber ist Schrimm erbost, sehr sogar. Objekt seines Zorn sind die Kollegen in München. "Der Zeitdruck ist enorm", sagt Schrimm der Süddeutschen Zeitung, "jeder verlorene Monat zählt." Und er macht kein Hehl daraus, dass die Monate in München verloren gingen; dort nämlich hat die Staatsanwaltschaft München I die Zentrale Stelle vor vier Tagen wissen lassen, sie benötige weitere Akten, bevor sie Anklage erheben könne gegen Ivan Demjanjuk.

Iwan "John" Demjanjuk, 88 Jahre alt, ist womöglich der letzte bekannte Nazi-Verbrecher, dem man noch den Prozess machen könnte. Anders als den angeblich nun doch verstorbenen Mediziner Aribert Heim, der bis dahin meistgesuchte NS-Täter, der in Mauthausen bei bestialischen Experimenten Hunderte Häftlinge ermordet haben soll, würde man Demjanjuk aber "nur" wegen Beihilfe zum Mord belangen können, so sehen es jedenfalls die Ludwigsburger Ermittler. Sie halten es für erwiesen, dass dieser von der SS ausgebildete "Hilfswillige" - damals wurden diese Handlanger nach dem Ortsnamen ihres Ausbildungslagers bei Lublin "Trawniki" genannt -, 1943 im Vernichtungslager Sobibor an der Ermordung von mindestens 29 000 europäischen Juden mitgewirkt hat, unter ihnen auch 1900 deutsche Juden - woraus sich die Möglichkeit zu einer Anklage in Deutschland ergibt.

Aber wann kommt diese Anklage? Federführend ist nun München, und München könnte, glaubt man Schrimm, eigentlich loslegen: "Ich halte eisern daran fest: Die Akten, die wir geliefert haben, sind vollständig und reichen zur Erhebung der Anklage völlig aus." Das sehen die Kollegen anders. "Von Verzögerung kann keine Rede sein", sagt Anton Winkler, Sprecher der Staatsanwaltschaft München I. Am gestrigen Donnerstag berieten die Münchner Ermittler und zwei Beamte der US-Sonderermittlungsbehörde für NS-Verbrechen (OSI), dabei auch deren Chef Eli Rosenbaum, die Lage der Dinge. Die US-Fahnder hatten Demjanjuks Dienstausweis mitgebracht, und vor allem der sorgt laut Winkler für eine Verzögerung. Die Staatsanwaltschaft München I lässt die Techniker des bayrischen Landeskriminalamtes prüfen, ob der Ausweis wirklich echt ist; in der Vergangenheit war dies umstritten. Winkler: "Ohne Bestätigung, dass es wirklich sein Ausweis ist, können wir eigentlich keine Anklage erheben." Das Gutachten wird nach Winklers Angaben etwa vier Wochen brauchen - "und dann werden wir, wenn es echt ist, sofort Haftbefehl beantragen und das Auslieferungsverfahren beginnen." Schrimm dagegen führt an, die Echtheit sei durch US-Experten längst bestätigt - doch dazu fanden die Münchner Kollegen, wie sie sagen, nichts in den Akten. Außerdem haben die Ludwigsburger noch einen greisen Zeugen aufgetan, der bestätigen könnte, dass Demjanjuk zur Tatzeit tatsächlich zu den Trawniki gehörte. Auch den will die Staatsanwaltschaft München erst noch selbst vernehmen.

Der Zwist zwischen München und Ludwigsburg hat eine Vorgeschichte. Die Ludwigsburger klagen nicht selbst an; sie versorgen die zuständigen Staatsanwaltschaften mit den Ergebnissen ihrer Ermittlungen. Die Münchner hielten sich aber gar nicht für zuständig, da Demjanjuk hier weder gelebt noch die ihm zugeschriebenen Verbrechen hier begangen habe. Schrimms Leute hatten ermittelt, dass Demjanjuk nach dem Krieg in einem Flüchtlingslager bei München untergetaucht war, woraus sie die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft in der Landeshauptstadt ableiteten. Der Bundesgerichtshof musste die Causa entscheiden, die manchen ausländischen Beobachter zweifeln ließ, ob die Deutschen NS-Täter tatsächlich mit jener Verve verfolgen, wie sie immer behaupten. Schrimm aber hat gewonnen. Im ungewöhnlicher Geschwindigkeit, binnen weniger Tage, entschied der BGH die Sache: Die widerwilligen Münchner waren doch zuständig. Und jetzt das.

Überlebende hatten Demjanjuk schon einmal als brutalen KZ-Wächter identifiziert, allerdings im Vernichtungslager Treblinka; er sei "Iwan der Schreckliche" genannt worden. Demjanjuk wurde 1988 in Jerusalem zum Tod verurteilt. Fünf Jahre später hob der Oberste Gerichtshof Israels das Todesurteil auf, da Demjanjuks Identität nicht zweifelsfrei feststehe. Er ging in die USA zurück, die ihm aber schon 1981 die Staatsangehörigkeit aberkannt und ihn nach Jerusalem ausgeliefert hatten. Später gab es Hinweise, dass Demjanjuk als Aufseher in Sobibor gewütet habe. Derzeit hat der staatenlose Demjanjuk keine Rechtsmittel mehr gegen seine Auslieferung eingelegt. Er lebt im Bundesstaat Ohio, sein Anwalt hält ihn für nicht vernehmungsfähig.

In einem sind sich die hadernden Staatsanwälte einig: "Die Amerikaner sind sehr interessiert, ihn nach Deutschland zu überstellen", sagt Schrimm: "Ich erwarte, dass sie ihn rasch ausliefern, wenn wir sie darum bitten." Auch Winkler sagt nach dem Treffen mit den US-Ermittlern, er befürchte "keine Verzögerungen durch die US-Justizbehörden". Dann müssen sich die deutschen Staatsanwälte nur noch untereinander einigen.

sueddeutsche.de