Herr Zuroff, Sie
kannten Simon Wiesenthal sehr gut. Wie war er?
Wenn Sie seine körperliche Erscheinung meinen, für
einen Europäer seines Alters war er relativ groß,
vielleicht knapp 1,80 Meter. Aber es war nicht seine Physis,
die ihn so besonders machte. Er war ein außerordentlich
kluger Mensch, mit großer Weltsicht – vor allem
für jemanden, der aus einer kleineren galizischen Stadt
stammt. Und er war sehr gut darin, wichtige Dinge griffig
auf den Punkt zu bringen. „Diejenigen, die die Mörder
der Vergangenheit ignorieren, bereiten den Weg für die
Mörder der Zukunft.“ Das war so einer seiner Sätze,
an die ich mich gut erinnere.
Betrachten Sie sich als sein Erbe?
Er hat nie einen Nachfolger benannt. Er hat wohl auch nie
daran gedacht. Man sieht mich als seinen Nachfolger, weil
ich tue, was er tat. Und das ist ein Kompliment für
mich.
Man nannte Simon Wiesenthal den Nazijäger. So nennt
man auch Sie. Mögen Sie diesen Ausdruck?
Er hilft mir bei der Arbeit. Weil er mir eine Menge Erklärungen
erspart. Ob ich ihn mag oder nicht, ist dabei unwichtig.
Seit über 20 Jahren suchen Sie untergetauchte Nazis.
Was war Ihr größter Erfolg?
Dass ich dabei helfen konnte, Dinko Sakic vor Gericht zu
bringen, den Kommandanten des kroatischen KZs Jasenovac.
Das war sicher einer der größten Erfolge. Aber
es gibt da etwas, das von noch größerer Bedeutung
ist: Ich war derjenige, der enthüllte, dass die baltischen
Länder Litauen und Lettland allzu lange Massenmörder
in Diensten der Nazis begnadigt haben, sie sogar rehabilitierten.
Sie waren auch derjenige, der die Akte Mengele schließen
konnte. Der Lagerarzt von Auschwitz hat eigenhändig
40 000 Menschen ins Gas geschickt. Er starb 1985 vermutlich
beim Baden in Brasilien.
Simon Wiesenthal war sehr frustriert, dass Mengele der Gerechtigkeit
entkommen konnte. Mindestens ebenso schlimm war für
ihn die Erkenntnis, dass unsere finanziellen Mittel einfach
nicht ausreichend waren. Deshalb bekam er Mengele nicht zu
fassen.
Es heißt, im Wiesenthal-Center gebe es Leute, die
sich fragen, ob man die begrenzten Mittel jetzt nicht besser
in Projekte steckt, die der Zukunft zugewandt sind.
Solche Diskussionen gibt es in jeder Institution, die sich
Gedanken über ihre Zukunft macht. Das Simon-Wiesenthal-Center
ist eine Menschenrechtsorganisation mit Standorten in der
ganzen Welt. Und die verfolgen vielfältige Aktivitäten:
Aufklärung über Rassismus, Antisemitismus, Terrorismus.
Wir in Jerusalem haben sicher nicht oberste Priorität.
Aber ich bin überzeugt von meiner Mission, die Naziverbrecher
vor Gericht bringen zu müssen.
Was tut ein Nazijäger?
Das hängt vom Fall ab. In der Regel arbeiten wir anders
als die Polizei. Die Polizei hat ein Verbrechen und dann
gucken sie, wer war es. Wir kennen unsere Verdächtigen
sehr oft bereits und suchen nach Fällen, in die sie
involviert sind. Und wie wir sie der Gerechtigkeit zuführen
können. Für alles andere haben wir weder die Zeit
noch die Ressourcen.
Es gibt Leute, die sagen, die Täter sind alt,
von ihnen geht keine Gefahr mehr aus. Was entgegnen Sie
denen?
Ich würde ihnen sagen, es gibt vier Gründe, nicht
nachzulassen. Erstens: Bloß weil sie vergeht, verringert
Zeit niemals die Schuld eines Mörders. Zweitens: Einfach
nur, weil jemand alt geworden ist, verdient er noch keine
Belohnung. Drittens: Ein Verfallsdatum für Anklagen
würde bedeuten, dass, wenn du reich genug bist, glücklich
genug und geschickt genug, der Gerechtigkeit lange genug
zu entkommen, lassen sie dich laufen. Das wäre moralisch
ungeheuerlich. Viertens: Wir sind es jedem Naziopfer schuldig,
dass alle Anstrengungen unternommen werden, diejenigen zu
bestrafen, die es zum Opfer gemacht haben.
Spielt Rache dabei eine Rolle?
Oft wissen wir, wo die Täter stecken. Aber wir wollen
keine Rache, wir wollen, dass die Gesellschaft mit diesen
Leuten angemessen umgeht und zeigt, dass sie in der Lage
ist, die Unschuldigen zu beschützen und die Schuldigen
zu bestrafen. Schaffen wir das nicht, verlieren die Menschen
das Vertrauen in diese Gesellschaft und werden dann vielleicht
darüber nachdenken, das Recht in die eigenen Hände
zu nehmen.
Sie meinen, das ist ein Zeichen für die Zukunft, wenn
Sie einen über 90-Jährigen zur Strecke bringen?
Ganz genau. Wenn wir sie noch nach 60 Jahren bestrafen,
dann beweist das, wie ernst wir ihre Verbrechen nehmen. Und
wir verhindern vielleicht den nächsten Völkermord,
weil wir potenziellen Tätern klarmachen, auch wenn es
lange dauert, die Welt lässt nicht locker, solche Taten
zu bestrafen.
Welches ist Ihr wichtigster Fall zurzeit?
Zweifellos Aribert Heim.
Die Nummer eins auf der vom Wiesenthal-Center veröffentlichten
Liste. Im Sommer war man ihm in Südamerika auf der Spur.
Die Fährte scheint wieder kalt zu sein.
Gerade vor zwei Wochen bekamen wir einen wichtigen Hinweis,
dem wir jetzt nachgehen.
Als Sie 2005 in Deutschland die Operation Last Chance bekannt
machten, hatten Sie Mühe, hierzulande einen Kooperationspartner
zu finden. Das Fritz-Bauer-Institut zur Erforschung des Holocaust
störte sich zum Beispiel daran, dass Sie Belohnungen
aussetzen.
Wenn ich eine Aktion starte, die allein an das Gewissen
der Menschen appelliert, was glauben Sie, wie viele Journalisten
da kommen. Null. Setze ich eine Belohnung aus, kommen alle
und berichten.
Kurt Schrimm, der leitende Staatsanwalt der deutschen Zentralstelle
für die Verfolgung der Naziverbrechen, sagt, wer 60
Jahre geschwiegen hat, redet nicht für 10.000 Euro.
Bei 10.000 Euro hat er vielleicht recht. Aber Josef
Schwammberger wurde in Argentinien ergriffen, nachdem die
Bundesrepublik
eine hohe Belohnung ausgesetzt hatte. Was sagt Schrimm zu
Fällen wie diesem?
Damals wurden 500.000 DM gezahlt.
Im Fall Erna Wallisch, einer KZ-Aufseherin in Majdanek,
gab eine Frau den entscheidenden Hinweis, damit der Fall überhaupt
neu aufgerollt werden konnte. Die Frau wollte keine Belohnung.
Wie viele Belohnungen mussten Sie auszahlen, seit die Operation
Last Chance im Jahr 2001 begann?
Wir haben nur eine ausgezahlt. Ich sagte Ihnen ja, in vielen
Fällen wollten die Leute kein Geld.
In Ihren Jahresberichten erteilen Sie Ländern Schulnoten
nach der Zahl der erledigten Fälle. Deutschland liegt
im Mittelfeld. Es gibt Juristen, die sprechen Ihnen die Kompetenz
ab, solche Noten zu verteilen.
Dieser Bericht basiert auf objektiven Zahlen. Sie müssen
kein Jurist sein, um festzustellen, dass es in einem bestimmten
Zeitraum wenige oder gar keine Urteile gegeben hat. Oder
wie viele laufende Ermittlungen aufgenommen wurden.
Das BKA ist auf der Jagd nach Aribert Heim. Deutschland
bemüht sich um die Auslieferung von John Demjanjuk.
Seit 2001 haben Sie weltweit 76 Urteile registriert. War
Operation Last Chance ein Erfolg?
Ja, mit Einschränkungen. Das Problem ist, dass wir
es oft mit Leuten zu tun haben, die ihre Verbrechen nicht
in dem Land begangen haben, in dem sie leben. Und dass dieses
Land sie oft nicht ausliefert, etwa weil sie angeblich nicht
reisefähig sind. Wenn man aber sieht, wie Operation
Last Chance noch einmal die Aufmerksamkeit für die Naziverbrechen
geschärft hat, dann war es ein Erfolg. Und wenn man
berücksichtigt, wie die Operation dazu beigetragen hat,
dass osteuropäische Gesellschaften dazu gebracht wurden,
ihre eigene Verstrickung in die Verbrechen der Nazis zu betrachten,
war es sogar ein großer Erfolg.
Zurück zu Ihrer Top-Ten-Liste: Mit Ausnahme von Aribert
Heim ist Ihnen der Aufenthaltsort aller anderen Personen
bekannt. Wonach suchen Sie eigentlich?
In den meisten dieser Fälle geht es darum, einen Ankläger
zu finden. Nehmen wir den Fall Zentai ….
….die Nummer sieben.
…. der sitzt in Australien fertig zur Auslieferung
nach Ungarn. Das Gericht hat im August entschieden. Was fehlt,
ist die Unterschrift des Innenministers.
Sie meinen, das ist kein Fahndungsplakat, sondern eine politische
Liste. Und Ihre Arbeit ist weniger die eines Detektivs als
vielmehr die eines Lobbyisten.
Ich würde das so sagen: Ein Drittel Detektivarbeit,
ein Drittel Historiker, ein Drittel Lobbyarbeit – wobei
Letzteres in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen
hat.
Wann ist die Jagd vorbei?
Wenn es niemanden mehr gibt, der gesund genug ist, dass
wir ihn vor Gericht bringen können. Ich weiß,
der Tag ist nicht mehr fern.
31.12.1908 Geburt Simon Wiesenthals in Buczacz, damals Galizien,
heute Ukraine.
1928 Als Jude kann er in Lemberg nicht studieren, er geht
nach Prag, studiert Architektur.
1936 Wiesenthal eröffnet ein Arrchitekturbüro
in Lemberg.
1941 Er entgeht knapp der Erschießung durch SS- und
Wehrmachtstruppen, wird aber ins KZ verschleppt.
1945 Befreiung aus dem Lager Mauthausen. Auch seine Frau überlebt,
aber 89 Verwandte sterben im Holocaust. Die Amerikaner beauftragen
ihn, Adolf Eichmann zu jagen, den Organisator des Massenmords
an den Juden.
1947 Er gründet die Jüdische Historische Dokumentation
in Linz, die Karteien zu Tätern und Tatorten anlegt.
1954 Wiesenthal spürt Eichmann in Argentinien auf,
es fehlen ihm aber die Mittel, Eichmann zu stellen. Das übernimmt
der Mossad, der isralische Geheimdienst.
1961 Gründung des Jüdischen Dokumentationszentrums
in Wien, Wiesenthal gelingt es, eine ganze Reihe prominenter
Nazi-Täter aufzuspüren, aber nicht immer findet
sich ein Richter.
1977 Gründung des Simon-Wiesenthal-Centers mit Hauptsitz
in Los Angeles.
2003 Er zieht sich in den Ruhestand zurück.
20.9.2005 Simon Wiesenthal stirbt in Wien.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 28.12.2008) tagesspiegel.de
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