2. Dezember 2008, 01:42 Uhr

welt.de
  50 Jahre lang auf der Jagd nach NS-Verbrechern
Bundespräsident Horst Köhler würdigt Zentrale Aufklärungsstelle in Ludwigsburg - Noch 24 laufende Verfahren Von Sven
Felix Kellerhoff
 
 

Ludwigsburg - "Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen wird immer nur ein Versuch bleiben", stellte Bundespräsident Horst Köhler gestern zum 50. Jahrestag der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen fest. Er griff damit eine Formulierung des langjährigen Leiters dieser Einrichtung, Adalbert Rückerl, auf. Zugleich betonte Köhler jedoch: "Dass unser Land heute wieder ein geachtetes Mitglied der Völkerfamilie ist und dass aus einstigen Kriegsgegnern Freunde geworden sind - das haben wir auch dem Bemühen um Aufklärung der NS-Verbrechen und somit auch der Arbeit dieses Hauses zu verdanken. Wir alle sollten dankbar dafür sein." Die Zentrale Stelle habe zudem "einen unverzichtbaren Beitrag" zu Aufarbeitung und Aufklärung geleistet.

Die Zentrale Stelle nahm am 1. Dezember 1958 ihre Arbeit auf. Zuvor war in einem NS-Prozess in Ulm deutlich geworden, dass noch unzählige Täter in der Bundesrepublik auf freiem Fuß waren. Doch die Zahl der neu eingeleiteten Verfahren wegen Tötungen war in den Fünfzigerjahren rückläufig - auch eine Folge des Wunsches, einen "Schlussstrich" unter die Vergangenheit zu ziehen. Gegen diese Tendenz wehrten sich vor allem jüngere Staatsanwälte und arbeiteten in der größten je in einem Rechtsstaat eingerichteten juristischen Aufarbeitungsinstitution mit.

Die Folge war schon 1959 ein Anstieg bei den Strafverfahren von 488 im Jahr 1958 auf dann 1075. Insgesamt hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten die Behörde - die Ende der Sechzigerjahre 124 Planstellen hatte, davon fast die Hälfte hoch qualifizierte Juristen - 7617 Vorermittlungsverfahren gegen über 100 000 Beschuldigte geführt.

Ursprünglich hätte die Arbeit der Zentralen Stelle bis zum 8. Mai 1965 abgeschlossen sein sollen. Nach damals gültigem Recht nämlich wären an diesem Tag selbst alle Mord verjährt. Doch nicht zuletzt dank der Initiativen aus Ludwigsburg kam eine breite Debatte in Deutschland in Gang, in deren Verlauf die Verjährung zunächst verschoben und schließlich aufgehoben wurde.

Zurzeit sind in Ludwigsburg noch 24 Vorermittlungsverfahren anhängig; zuletzt abgeschlossen wurde der Fall des ukrainischen KZ-Wärters Iwan Demjanjuk. Ob der heute 88 Jahre alte Mann noch bestraft werden kann, ist offen - die Staatsanwaltschaft München hat sich vergangene Woche aus sehr fragwürdigen formalen Gründen für unzuständig erklärt. Demjanjuk war nach Überzeugung der Ludwigsburger Strafverfolgung an der Ermordung von mindestens 29 000 Juden im deutschen Vernichtungslager Sobibor im Südosten des besetzten Polens beteiligt.

Da absehbar ist, dass bald auch die letzten potenziellen Beschuldigten sterben werden, wird die Zentrale Stelle schon seit Längerem von der aktiven Strafverfolgungs- zur Forschungsstelle umgestaltet. Das Bundesarchiv übernimmt sukzessive ihre Akten; Köhler lobte dieses Engagement ausdrücklich: "Dass sich das Bundesarchiv in Ludwigsburg als ,historischer Lernort' versteht und seine Tore für Schülerinnen und Schüler öffnet, finde ich besonders gut. Hier wird an konkreten Einzelfällen deutlich, was man aus Geschichtsbüchern zwar lernen, aber nicht begreifen kann - das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen Holocaust." Für die Auswertung der in 50 Jahren gesammelten Materialien, darunter eine Kartei mit 1,7 Millionen Einträgen und eine halbe Million Blatt Dokumentenkopien aus allen möglichen Archiven in Europa, ist zudem eine eigene Forschungsstelle der Universität Stuttgart zuständig, die seit einigen Jahren besteht und bereits zahlreiche Ergebnisse veröffentlicht hat.

Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, stellte in ihrer Rede klar, dass trotz aller Verdienste der Zentralen Stelle mit Blick "auf die gerechte Verurteilung der Täter der Wettlauf gegen die Zeit verloren ist". Niemals jedoch dürfe der "Wettlauf gegen das Vergessen verloren gegeben werden".

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