30. Oktober 2008

fr-online.de
  Die Zeit läuft ab
VON KATHRIN HEDTKE
 
 

Den Ermittlern bleibt nur wenig Zeit. Seit 50 Jahren fahndet die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen weltweit nach Hitlers Schergen. Doch mit jedem Tag sinkt die Chance, Täter noch lebendig zu fassen und vor Gericht zu stellen. "Wenn niemand mehr lebt, ist unsere Arbeit abgeschlossen", sagt Staatsanwalt Joachim Riedel. Für das Team in Ludwigsburg geht es in den Endspurt, auch wenn das Datum nicht feststeht.

Der Leiter der Zentralen Stelle, Kurt Schrimm, war gerade in Chile: In der Einwanderungsbehörde wälzte der Oberstaatsanwalt Akten und hielt nach Namen bekannter Nazis Ausschau. Sein Stellvertreter Riedel stöbert in Moskau nach Spuren. Seit Ende des Kalten Krieges stehen ihm endlich die Archive im ehemaligen Ostblock offen, der Staatsanwalt will dort "tonnenweise" historisches Material sichten. Er hofft auf Hinweise auf die Identität der Verbrecher: "In den Beuteakten aus Deutschland wird oft Klartext gesprochen." Die Einsatzkommandos hätten täglich berichtet, wie viele Juden sie getötet hätten. Mitunter sei im Detail geschildert, wie die Trupps sogar Kinder vor ihrem Tod noch sadistisch quälten.

Unbefriedigende Bilanz

Am 6. November 1958 gründeten die Justizminister der Länder die Behörde zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen - mit der Bilanz ist niemand so recht zufrieden. Zwar ermittelten die Mitarbeiter gegen weit mehr als 100 000 Tatverdächtige, doch seit Kriegsende wurden lediglich knapp 6500 Täter verurteilt. Die Mehrheit wurde wegen kleinerer Delikte zu geringen Strafen verurteilt. "Die Quote der Verurteilungen ist minimal", räumt Riedel ein.

Der Leiter des Jerusalemer Simon Wiesenthal Zentrums, Efraim Zufroff, stellt den deutschen Ermittlungsbehörden insgesamt kein gutes Zeugnis aus: Ihre Arbeit hätte in der Praxis "schneller, effizienter und erfolgreicher" erfolgen können. "Es ist die letzte Chance, Gerechtigkeit zu erlangen", betont Zufroff, "dafür muss alles getan werden." Es seien nur noch zwei, drei Jahre Zeit. Nicht alle Staatsanwälte ermittelten engagiert genug. Dabei hätten sie im Gegensatz zu anderen Ländern ideale Bedingungen: Bei der Fahndung nach NS-Verbrechern gebe es heute in Deutschland keine politische Opposition.


" Schmerzhaft für die Opfer"

Nach Ansicht von Ulrich Sander von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) geht es nicht darum, 90-Jährige lebenslang hinter Gitter zu stecken. Viel wichtiger sei die Anerkennung der Schuld: "Für die Opfer ist es ungeheuer schmerzhaft, dass ihre Peiniger noch frei herumlaufen und nie etwas geschehen ist."

Riedel ist nicht bekannt, dass ein Täter vor Gericht jemals um Verzeihung gebeten hätte. Er gibt den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eine Mitschuld an der mangelnden Aufarbeitung: Nach Kriegsende hätten die Alliierten NS-Verbrecher nur "häppchenweise" verfolgt: "Was damals versäumt wurde, kann nur bruchstückhaft nachgeholt werden." Seit 1960 ermittelt die Behörde nur noch wegen Mordes, geringfügigere Verbrechen sind verjährt.

In seinem letzten großen Projekt nimmt sich Riedel eines besonders düsteren Kapitels an: Er will SS-Soldaten der Brigade Dirlewanger vor ihrem Tod noch auf die Anklagebank bringen. Die Einheit war 1944 an der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto beteiligt. "Sie waren besonders bestialisch", sagt der Staatsanwalt. Vor kurzem tauchten in Polen Namenslisten auf; es könnte noch zu Anklagen kommen: "Der Erwartungshorizont ist nicht hoch, doch die Hoffnung ist da."

fr-online.de