15.09.2008 10:53 Uhr

sueddeutsche.de
  Der alte Mann und der Tod
Ein Kommentar von Joachim Käppner
 
 

Eine Ära geht zu Ende: In München beginnt einer der letzten großen NS-Prozesse. Mehr als 10.000 Urteile sind gefallen, doch das Bild, zu dem sich die Verfahren fügen, wirkt kläglich.

Ein Greis steht vor Gericht, 64 Jahre nach den abscheulichen Verbrechen, derer er angeklagt ist. Fast ein Menschenalter sind die Taten her, für die er sich verantworten muss. Taten, welche die meisten Deutschen, wenn überhaupt, nur aus Fernsehberichten kennen, die den Jüngeren unendlich fern vom eigenen Leben erscheinen und die es doch nicht sind: Sie prägen die Gesellschaft bis heute.

An diesem Montag beginnt in München der Prozess gegen den 90-jährigen Josef S., der im Juni 1944 seiner Gebirgs-Pionier-Kompanie in Falzano den Massenmord an italienischen Zivilisten befohlen haben soll. Falzano gibt es nicht mehr, S.blieb Jahrzehnte unbehelligt.

Es ist vielleicht - wahrscheinlich sogar - das letzte größere Verfahren, in dem ein Angeklagter wegen Verbrechen aus der NS-Zeit vor Gericht steht, das letzte von Tausenden seit 1945. Eine Ära geht zu Ende, die Ära der Zeitzeugen, der Opfer wie der Täter und damit auch des Versuchs, dem Zivilisationsbruch so etwas wie Recht und Sühne folgen zu lassen. Mehr als 10.000 Urteile gegen NS-Täter sind in Westdeutschland gefallen, und so beeindruckend die Zahl zunächst wirkt, so kläglich ist das Bild, zu dem sich die Prozesse insgesamt fügen.


Skandalöse Freisprüche, niedrige Strafen, schleppende Ermittlungen
Im Jahr 1946 schon lief in Berliner Kinos Wolfgang Staudtes Film "Die Mörder sind unter uns". Die Mörder waren in der Mitte der Gesellschaft, doch belangt wurden nur wenige von ihnen. Es gab skandalöse Freisprüche, niedrige Strafen, schleppende Ermittlungen, und noch heute kann man sich fragen, warum Wehrmachtsverbrechen in Italien fast nie verfolgt wurden. Entgegen einem verbreiteten antifaschistischen Klischee hat die DDR übrigens nach 1950 fast völlig auf die Verfolgung von NS-Verbrechen verzichtet. Auschwitz galt als alleiniges Problem der Westdeutschen.

Deren Richter hatten lange einen schlechten Ruf. Der Publizist Günther Schwarberg hat die bundesdeutsche Justiz als "die Mörderwaschmaschine" beschimpft. Das Problem waren aber weniger die Richter, auch wenn viele alte Kameraden unter ihnen waren, die gestern noch keine höhere Instanz gekannt hatten als den "Führer".

Das Problem war bis in die siebziger Jahre hinein die Mehrheit der Gesellschaft selbst und ihre Weigerung, sich der Vergangenheit und dem eigenen Versagen zu stellen. Es gab Männer wie den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, welche die Täter von Auschwitz vor Gericht brachten; und es gab den Bundestag, der anfangs bei den Alliierten um Gnade für die Mörder der SS-Einsatzgruppen bettelte, der so viele Amnestien beschloss und so viele Verjährungen, etwa für
die Schreibtischtäter, dass für Anklagen nur das Delikt des nackten Mordes übrig blieb.

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