18.04.2006
Süddeutsche Zeitung Ausgabe Deutschland, S. 8
 

Letzte Chance
Die schwierige Jagd nach den betagten Nazi-Verbrechern

Von Robert Probst

 
 


Efraim Zuroff spricht von einer Farce. Ein litauisches Gericht hat vor kurzem den NS-Kriegsverbrecher Algimantas Dailide verurteilt. Dailide war von 1941 bis 1944 Mitglied der litauischen Geheimpolizei und hatte Juden, die aus dem Ghetto von Wilna fliehen wollten, an die Nazis ausgeliefert. 22000 litauische Juden waren damals ermordet worden. Ein Urteil wäre normalerweise für Zuroff, den Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, ein wichtiger Erfolg, hat er sich doch mit der groß angelegten "Operation: Last Chance" vorgenommen, noch lebende NS-Kriegsverbrecher vor die Richter zu bringen. Das Gericht jedoch sprach keine Strafe gegen Dailide aus, aufgrund des fortgeschrittenen Alters des 85-jährigen, gebrechlichen Mannes ließ es Milde walten.

Aus Sicht der 1977 gegründeten Organisation, die nach dem Holocaust-Überlebenden Simon Wiesenthal benannt ist, laufen noch viele Mörder aus der NS-Zeit frei herum und "genießen ihren Lebensabend". Nun wird die Zeit knapp, die noch lebenden Täter sind alt und oft kaum mehr vernehmungsfähig. Ähnliches gilt für die Zeugen. Deshalb läuft seit 2002 die "Operation: Last Chance". Vor allem in post-kommunistischen Staaten wie Ungarn, Litauen und Rumänien zeigt sie Erfolge. In neun Staaten wurden 413 Namen ermittelt, 87 an Anklagebehörden weitergeleitet. Die Zahlen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Öffentlichkeit, vor allem in den baltischen Ländern, zurückhaltend bis ablehnend auf die Suche reagiert. Viele werden ungern daran erinnert, dass Einheimische bei der Deportation der Juden in die Vernichtungslager geholfen haben. So wohnten etwa der Verhandlung gegen Dailide zahlreiche nationalistisch gesinnte Bürger mit "Kein Beweis für seine Schuld"-Schildern bei.

Hinzu kommen die schwierige Beweislage und der Unwille von Regierungen, alte und unangenehme Geschichten aufzurühren. Und so resultierten aus den Nachforschungen bisher nur drei Haftbefehle und zwei Auslieferungsanträge. Auch wenn die bürokratischen Hürden überwunden sind, läuft die Uhr gegen die Ermittler.

In Deutschland startete Zuroff, der seit 18 Jahren Nazi-Schergen auf der ganzen Welt hinterherspürt, die Kampagne Anfang 2005. Der Erfolg im Land der Täter ist bisher gering. Zunächst musste sogar der Start der "Operation" mehrmals verschoben werden, weil sich keine Kooperationspartner fanden.Dabei gäbe es genug zu tun. In der alten Bundesrepublik wurden lediglich 6500 NS-Verbrecher rechtsgültig verurteilt. Mehr als 100000 Verdächtige waren ermittelt worden - die meisten blieben unbehelligt. Vergangenes Jahr gingen immerhin mehr als 150 Anrufe über eine eigens geschaltete Telefonnummer ein. 62 Namen wurden genannt.

Ganz anders lief es in Österreich. Dort riefen viele Bürger bei der Hotline an - aber 90 Prozent von ihnen gaben antisemitische Hetzparolen von sich. Ende 2005 haben die Initiatoren die Namen von vier neu aufgetauchten deutschen Tätern an die Zentralstelle für Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg gemeldet. Zwei Beschuldigte sollen sich an Verbrechen in Konzentrationslagern, zwei an Tötungen von Zivilisten beteiligt haben. Die Hinweise kamen aus dem Familienkreis.

Seit langer Zeit ganz oben auf der Wunschliste Zuroffs steht Alois Brunner, ein enger Mitarbeiter Adolf Eichmanns, des Organisators der "Endlösung". Niemand weiß, ob der 1912 geborene Burgenländer noch lebt. Mehr Chancen sehen die Fahnder beim ehemaligen KZ-Arzt Aribert Heim (siehe nebenstehenden Bericht). Nicht überall trifft das Vorgehen des Wiesenthal-Zentrums auf Verständnis. Historiker kritisieren, dass für Hinweise, die zu einer Verurteilung führen, 10000 Euro ausgesetzt wurden. Dies appelliere an niedere Instinkte, monierte etwa Micha Brumlik vom Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt. Doch Zuroff geht es um den "Kampf für Gerechtigkeit, historische Genauigkeit und gegen Antisemitismus".

Auf die 10000 Euro werden Tippgeber sowieso noch länger warten müssen, wenn es weiter so läuft wie in Litauen. Außer Dailide standen dort seit der Unabhängigkeit 1991 zwei weitere Männer wegen ihrer Verbrechen vor Gericht. Aleksander Lileikis, 92, ehemals Chef der Sicherheitspolizei, starb, kurz nachdem ihn das Gericht für verhandlungsunfähig erklärt hatte. Kazimierez Gimzauskas, 93, wurde als Helfer der Nazi-Schergen verurteilt, aber wegen seiner Gebrechlichkeit nicht ins Gefängnis gesteckt. Er starb kurz nach dem Prozess.