27.10.2005
Tagesspiegel
 

Spuren eines Ungeheuers

Von Armin Lehmann, Denia

 
 


Seit 43 Jahren auf der Flucht: Aribert Heim, der brutale KZ-Arzt von Mauthausen. Wo ist er? Kürzlich wurde er in Spanien gesehen.

In der Sierra Bernia, knapp 1000 Meter hoch, steht Jaime und hält ein Foto von einem alten Mann in der Hand. Jaime lebt schon seit Jahrzehnten hier im Hinterland der Costa Blanca, zwischen Alicante und Valencia. Der alte Mann auf dem Bild ist ein Mörder, ein Sadist, ein Flüchtiger, und er soll hier in der Gegend gesehen worden sein. Jaime kennt in den Bergen jeden Stein und jeden Baum, und er weiß auch, dass hier mal Deutsche waren, angeblich versteckt auf einem großen Grundstück mit hohen Mauern, bewacht von Schäferhunden. „Nazis sollen das gewesen sein“, sagt Jaime. Aber die seien alle tot. Dann schaut er hinab ins Tal, wo sich das Meer mit dem Horizont verbündet. Spanien ist ein weites Land, wie findet man da die Spuren eines Verbrechers?

Das Bild in Jaimes Händen stammt vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg, es zeigt den ehemaligen KZ-Arzt Aribert Heim, seit 43 Jahren weltweit gesucht. Jetzt stand Heim kurz vor der Verhaftung, in Spanien waren die Ermittler schon ganz nahe an ihm dran, und doch ist er ihnen anscheinend erneut nach Lateinamerika entwischt, wo ihn Zeugen auf einem Flughafen in Venezuela gesehen haben wollen. Immer wieder gab es Hinweise auf den Aufenthaltsort des Mitglieds der Waffen-SS. Die jüngsten dieser Spuren führten an die spanische Ferienküste. Irgendwo hier soll Heim gelebt haben und gesehen worden sein. Es muss sich also etwas finden lassen über ihn, sein Leben und seine Beschützer.

Das weiß man über ihn: Heim, 91 Jahre alt, hat im Konzentrationslager Mauthausen Häftlinge brutal behandelt, hat sie ohne Betäubung operiert. Heim hat Menschen Injektionen direkt ins Herz gespritzt und Bäuche bei lebendigem Leib aufgeschnitten, um Gedärme zu entnehmen. Bis 1962 praktizierte er als Arzt in Friedberg und Baden-Baden, in seiner Freizeit spielte der 1,90 Meter große Mann Eishockey, Schuhgröße 47, Narbe am rechten Mundwinkel. Im September 1962, als ein Haftbefehl gegen ihn vollstreckt werden soll, flieht er vermutlich über Spanien nach Lateinamerika. Stets wird er von der Familie mit Geld versorgt, bis 1979 durch Einnahmen eines Berliner Mietshauses.

Und jetzt wieder Spanien. Immer wieder führen Spuren an die Costa Blanca. Von der Sierra Bernia sind es nur wenige Kilometer zum Küstenstädtchen Denia. Hier soll sich Heim, vielleicht unter dem Namen Dr. Hahn, aufgehalten haben. Der Ferienort ist ein Paradies für deutsche Rentner, 10 000 von ihnen leben offiziell in der Gegend. Sie wohnen meist in schönen Bungalows oder Villen mit Blick aufs Meer. Es sind gut gesicherte Häuser mit elektrischen Toren ohne Klingeln an der Tür; auf den Grundstücken schimmert das Blau der Pools, und in den Häusern sieht es oft so aus wie in einem Antiquitätengeschäft. Im Oktober scheint die Sonne noch freundlich auf Denias Strände hinab, und die rüstigen Rentner kurven auf Mopeds durch die Stadt oder spazieren durch die Berge. Das ist Denia heute.

Vom Heute führen verschlungene Pfade zurück in die Geschichte, wer sie betritt, findet Beweise dafür, dass vor 60 Jahren hohe SS-Offiziere dieses Städtchen für sich entdeckt haben. Sie haben Denia zu dem gemacht, was es vielleicht noch heute ist: nicht nur Rentnerparadies, sondern auch Aufenthalts- und Zufluchtsort für NS-Verbrecher.

Ein Weg in die dunkle Vergangenheit führt auf den Zentralfriedhof von Denia. Vier große Palmen bewachen den Eingang, wer den letzten Gang rechts wählt und fast bis zum Ende läuft, stößt auf das Grab von Anton Galler, hoher SS-Offizier und einer der verantwortlichen Kommandeure für das Massaker von Sant'Anna am 12. August 1944. Damals, in den Apuanischen Alpen in Italien, wurden mehr als 500 unschuldige Menschen getötet, angeblich, weil man sie für Partisanen hielt. Galler, 1915 in Österreich geboren, ließ sich 1935 in Deutschland einbürgern, da war er schon in der SS aktiv. 1943 kam Galler zur 16. SS-Panzerdivision, kurz vor dem Massenmord wurde er ihr Chef.

Im Friedhofsregister ist Anton Galler nicht eingetragen, der Friedhofswärter sucht den Namen vergeblich, doch das Grab ist leicht zu finden und trägt die Nummer zwölf, in der vierten, oberen Reihe. Die Grabplatte ist schwarz, ein Bild gibt es nicht. Anton Galler ist, neben Aribert Heim, wohl der ranghöchste NS-Verbrecher, der in Denia lebte. Er kam erst in den 80er Jahren, und sein Sohn, Dietmar Galler, dachte lange Jahre, er sei wegen seines Rheumas an die spanische Küste gezogen.

Der Vater bezog ein kleines Häuschen nicht weit entfernt vom Meer, gelb gestrichen, Hibiskusblüten. Er lebte mit seiner zweiten Frau zurückgezogen, sagt der Sohn. Dietmar Galler ist 61 Jahre und ein honoriger Oberbürgermeister in der Oberpfalz. Als er fünf Jahre alt ist, lässt sich der Vater, den er fast nie gesehen hat, scheiden und heiratet seine Jugendliebe. Erst mit 18 sieht Galler junior ihn wieder und wundert sich später, warum der immer auf Baustellen lebt, „als sei er auf dem Sprung“. Der Sohn fragt nicht nach, der Vater erzählt nichts.

Dietmar Galler sagt heute: „Ich habe nichts gewusst.“ Er beschreibt seinen Vater als „eine Persönlichkeit, die einem Respekt einflößt“. Als Anton Galler, nach Aufenthalten in Kanada und Österreich, 1995 mit 80 Jahren stirbt, stellt der Sohn das Haus auf den Kopf, aber er findet nichts, was an die Vergangenheit erinnert. Dietmar Galler weiß nur, dass diesen Mann etwas schwer belastet haben muss, stets ging er gebeugt, auch wenn er den Dackel spazieren führte.

Am anderen Ende des Friedhofs, links vom Eingang, liegt ein anderer hoher SS-Offizier begraben. Er heißt Gerhard Bremer, und sein Netzwerk in Denia war wohl der Grund, warum Galler an der Costa Blanca landete und vielleicht auch Heim. Auch Bremers Grab trägt kein Bild, die Marmorplatte ist weiß, die weißen Kunstrosen sind vergilbt, kein Kreuz ziert das Grab. Auch Bremer steht nicht in den Friedhofsakten, aber ihn kennt der Wärter: „Er war eine geachtete Person.“

Wenigstens in seiner Vita muss sich doch ein Hinweis auf Heim finden lassen. Bremer kommt wohl Anfang der 50er Jahre nach Denia, zuvor hat er Hitler als SS-Sturmbannführer gedient, war Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub und bestens befreundet mit einem anderen SS-Offizier: Otto Skorzeny. Der Deutsche befreite im September 1943 Mussolini in den Abruzzen, und es ist möglich, dass auch Bremer an der Aktion beteiligt war, wie auch das Wachbataillon Gallers.

Bremer gilt in Denia als „Pionier der Tourismusbranche“. Bereits kurz nach seiner Ankunft baut er eine der ersten Bungalow-Anlagen direkt am Meer. Die separaten, flachen Häuschen liegen eingebettet in eine schöne Gartenanlage. Der Eingang besteht aus einem drei Meter hohen Holztor mit Messingbeschlägen. Noch heute prangt dort der Name Bremer in grüner Schrift mit dem Datum 1954. Die Anlage ist jetzt verkauft worden. Vielleicht wollte Bremers Sohn, der noch in Denia lebt, nichts mehr mit den alten Geschichten des Vaters zu tun haben. Bremer junior wird viel wissen über die alten Seilschaften, vielleicht auch über die Besuche Aribert Heims, aber er will nicht reden, sagt nur: „Tut mir Leid.“

Die Bungalow-Anlage wird in Denia sehr geheimnisvoll behandelt. Die Leute flüstern Geschichten von alten Nazis und ihren Festen. Es sind exklusive Partys, nicht für jeden zugänglich und unheimlich für jeden Fremden. Der Musiker Josep Sendra hat erlebt, was hinter dem Tor geschah, er musste im Juli 1980 mit dem Stadtorchester für Bremer spielen. Die örtlichen Obrigkeiten bedeuteten Sendra, dass Bremer dafür sehr viel Geld geben und neue Instrumente spendieren würde.

Sieben dunkle Mercedes-Limousinen holen die verdutzten Musiker ab und bringen sie vor den Eingang. Erst müssen die Musiker vor dem Gelände spielen, dann geht das Tor auf, „und Bremer steht in voller SS-Montur vor mir“, erinnert sich Sendra. Bremer trägt eine Mütze mit SS-Abzeichen, eine graue Uniform und Stiefel bis zu den Knien, an der Seite seine blonde Frau, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem riesigen Hund an der Leine. Bremer war groß und kräftig und von „einnehmender Persönlichkeit“, weiß Sendra. Aber von einem Arzt namens Heim habe er nie etwas gehört.

Bremers Bungalows waren nicht die einzigen Orte, an denen die Nazis ihre Feste feierten, gerne beim Frühschoppen, Hitlers Bilder aufstellten, Kerzen für den Führer anzündeten und alte Lieder sangen. Einige Kilometer vom Strand entfernt, im gediegenen Bezirk Las Rotas, gab es das Restaurant „Finita“, benannt nach der spanischen Inhaberin Josefina, ein bekannter Treffpunkt der Deutschen. Was wenige wussten: Auch Josefina und ihr österreichischer Mann Sepp waren Sympathisanten Francos und der Nazis. Für Bremer waren sie Mittler, um alte Kameraden in die Bungalows zu holen. Viele sind geblieben und in die neuen Villenviertel am Hang gezogen. In vielen Straßen, sagen die Nachbarn, habe einer gewohnt. Wenn Heim hier war, werden ihn Josefina und Sepp gesehen haben, aber sie sind tot.

Vielleicht muss man noch weiter zurück in der Geschichte, um zu verstehen, wie wichtig Denia für die alten SS-Kameraden war. Lange vor Kriegsende hat hier auch einer der mächtigsten deutschen Geschäftsleute in Spanien und General der SS seine Spuren hinterlassen. Es ist gut möglich, dass Gerhard Bremer das Erbe von Johannes Bernhardt antrat.

Bernhardt war eine Art Wirtschaftsvertreter der NSDAP-Auslandsorganisation in Spanien. Über ihn ließ Franco Hitler im Juli 1936 um Unterstützung für seine Pläne bitten. Bernhardt traf Hitler in Bayreuth, später stieg er zum einflussreichsten Unternehmer und Waffenhändler auf und nutzte seine Verbindungen auch nach Francos Sieg im Bürgerkrieg – in Denia. Der Historiker Sanz de Bremond erwähnt Bernhardt in einem Buch über Denias Geschichte. Er habe in der Finca „El Tosalet“ bis 1953 luxuriös gelebt. Bernhardt kannte auch den Mussolini-Befreier Otto Skorzeny, Bremers Freund, gut, auch der war in Denia und hob sein Geld immer von der „Banco Bilbao“ ab. Mitte der 50er Jahre flohen beide nach Lateinamerika.

Auch Aribert Heim ging nach Südamerika. Hat er die Flucht von Denia vorbereitet? Von hier sind die großen Häfen an der spanischen und afrikanischen Küste gut zu erreichen, und in den 50er und 60er Jahren, erzählt man sich, wurden diese Wege oft genutzt. Die Deutschen, heißt es, hätten ihren eigenen, kleinen Hafen gebaut, den man auf alten Fotos gut sehen kann. Vor der Costa Blanca liegen die Inseln Ibiza und Mallorca, von Denia gut zu erreichen. Kürzlich will ein israelischer Tourist Aribert Heim auf Ibiza gesehen haben. Auch auf der Ferieninsel haben die Nazis sich einen Bungalow-Park gebaut, der längst verrottet ist.

Ob Heim die Insel besucht hat, weiß man nicht, aber dass Heim geschützt wurde von einem Netzwerk alter Kameraden, auch auf spanischer Seite, darf als sicher gelten. Im LKA Baden-Württemberg ist man zurückhaltend. Oft gingen Hinweise auf Heim ein, aber dann stellte sich heraus, dass es sich um eine andere Person handelte. Seit einem Jahr kümmern sich die Spezialisten der Zielfahndung um die 40 Aktenordner über Heim, ihre Aufklärungsquote liegt bei 85 Prozent. Doch als es hieß, Heim stehe in Spanien kurz vor der Verhaftung, hatte das LKA gar keine Zielfahnder vor Ort.

An der Straße zum Restaurant „Finita“ war in den 70er Jahren leicht versteckt ein Zeichen in den Stein gehauen, das dem des Hakenkreuzes sehr nahe kam. Über dem Restaurant wehte das gleiche Symbol auf einer Fahne. Wer wollte, konnte hinsehen und verstehen. Die Symbole sind längst beseitigt, das Restaurant wird renoviert. Geblieben sind in Denia die Deutschen, aber die Spuren der alten Nazis verwischen – hier am Meer und auch oben in den Bergen. In der Sierra Bernia schüttelt Jaime den Kopf. Den alten Mann auf dem Bild kennt er nicht. Aribert Heim bleibt auf der Flucht.

Tagesspiegel - 27.10.2005