24.09.2019 06:00 Uhr tagesschau.de
Unrecht, das nicht verjährt
Von Julian Feldmann und Nino Seidel

Bundesweit laufen noch 29 Strafverfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Das ergaben Recherchen des NDR-Magazins Panorama 3. In Hamburg beginnt im Oktober der Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann.

Bei Staatsanwaltschaften in Deutschland sind 29 Verfahren wegen Nazi-Verbrechen anhängig, wie eine Umfrage von Panorama 3 unter allen deutschen Strafverfolgungsbehörden ergab. Im Fokus stehen vor allem ehemalige Angehörige der Wachmannschaften in den deutschen Konzentrationslagern. Sie sollen als Teil der Mordmaschinerie das systematische Töten von Menschen ermöglicht haben.

Die noch andauernden Ermittlungen richten sich insgesamt gegen rund 50 namentlich bekannte Beschuldigte, darunter sind auch Frauen. In einigen Fällen ist unklar, ob die Tatverdächtigen noch leben. Den Beschuldigten wird Mord oder Beihilfe zum Mord, teilweise in Tausenden Fällen, vorgeworfen.

Angeklagt haben die zuständigen Staatsanwaltschaften zwei Männer, die im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig als Wachleute an der Ermordung von Hunderten beziehungsweise Tausenden Unschuldigen beteiligt gewesen seien sollen.

Ein 94 Jahre alter Mann ist am Landgericht Wuppertal angeklagt. Wie ein Gerichtssprecher auf Anfrage von Panorama 3 mitteilte, war es "wegen der anhaltend hohen Belastung der Kammer mit vorrangig zu bearbeitenden Haftsachen" noch nicht möglich, über eine Übernahme des Verfahrens zu entscheiden.

Angeklagter wusste offenbar von Gaskammern

Am Landgericht Hamburg beginnt Mitte Oktober der Prozess gegen den 93 Jahre alten Bruno D., einst ebenfalls Aufseher im KZ Stutthof. Der zur Tatzeit 17 und 18 Jahre alte Bruno D. gab in mehreren langen Vernehmungen zu, als Aufseher im KZ Stutthof gewesen zu sein. Es sei im Kameradenkreis mal über "Judenvernichtung" gesprochen worden, sagte er laut Vernehmungsprotokollen, die Panorama 3 vorliegen.

Auch habe er gewusst, dass in der Gaskammer Menschen ermordet wurden. Eine Mitschuld an den Mordtaten sieht er jedoch nicht. Der Prozess gegen den Rentner beginnt am 17. Oktober.

Bruno D. wollte sich gegenüber dem NDR nicht zu den Vorwürfen äußern. Wegen des hohen Alters der Beschuldigten in den anderen Verfahren werden weitere Prozesse wie der gegen Bruno D.  immer unwahrscheinlicher. Es könnte also einer der letzten sein.

Taten in Frankreich und der Ukraine

Die meisten Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Mordhelfer in der NS-Zeit laufen bei den Staatsanwaltschaften in Neuruppin und Erfurt. Die Strafverfolger in Neuruppin in Brandenburg sind für Taten in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück zuständig. Zwölf Verfahren gegen KZ-Aufseherinnen und -Aufseher aus diesen KZs sind hier anhängig.

In die Zuständigkeit der Erfurter Ermittler fällt das KZ Buchenwald, gegen sechs mutmaßliche Angehörige der dortigen Wachmannschaften wird noch ermittelt. Einzelne Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter sind noch in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern und Schleswig-Holstein anhängig. Bei einigen Verfahren geht es um Massaker von SS-Einheiten in Frankreich und durch Mitglieder von "Sicherheitspolizei" und "Sicherheitsdienst" in der heutigen Ukraine.

Persönliche Verantwortung Einzelner feststellen

Vorermittlungen gegen mögliche NS-Verbrecher laufen auch noch bei der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Hier versuchen die Ermittler herauszufinden, welche mutmaßlichen Täter noch leben und inwiefern diese für ihre Taten noch belangt werden können.

Derzeit stehen noch vier Konzentrationslager im Fokus der Ludwigsburger Ermittler. Für den Leiter der Zentralen Stelle, Jens Rommel, ist auch mehr als 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Strafverfolgung von mutmaßlichen Tätern noch wichtig. Die heutige Aufklärung von NS-Verbrechen könne dazu beitragen, "festzustellen, was geschehen ist, und die persönliche Verantwortung des Einzelnen in dem verbrecherischen System zu bestimmen", sagt Rommel im NDR-Interview. So könnten die Geschehnisse "auch heute noch als Unrecht" bewertet werden. Auch für die Opfer des NS-Regimes seien diese Verfahren wichtig.

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