04. Juli 2011 08:02 Uhr
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Die späte Suche nach der Wahrheit
Autor: Stefan Prinz

Osnabrück/Verona. Die Spuren des wohl letzten großen NS-Kriegsverbrecher-Prozesses führen auch nach Niedersachsen. Ein italienischer Militärstaatsanwalt wirft einem 93-jährigen Osnabrücker und acht weiteren ehemaligen Wehrmachtssoldaten vor, 1944 an der Ermordung von fast 400 Zivilisten in Norditalien beteiligt gewesen zu sein. Am Mittwoch fällt das Urteil.

Normalerweise liegen zwischen der Kanzlei des Rechtsanwalts Robert Seidler in der Osnabrücker Innenstadt und seinem Arbeitsplatz im Gericht nur ein paar Hundert Meter. Seit fast zwei Jahren ist Seidler allerdings mit einem Fall befasst, der eine Anfahrt von tausend Kilometern zu einem italienischen Militärgericht erforderlich macht.

Zum mittlerweile zwölften Mal ist der Jurist gestern ins italienische Verona aufgebrochen, um die Rechte seines 93-jährigen Osnabrücker Mandanten zu verteidigen. Der Rentner wird beschuldigt, als damals 26-jähriger Leutnant und Zugführer eines Pionierzuges der 5. Kompanie in der Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring“ an Massakern gegen die Zivilbevölkerung beteiligt gewesen zu sein. Im Jahr 1944 operierte die Panzeraufklärungsabteilung „Hermann Göring“ in Norditalien. Teile dieser Einheit ermordeten dort Hunderte Menschen.

Mehr als 60 Prozesstage sind seit dem Verhandlungsauftakt im Herbst 2009 vergangen. Fünf der ursprünglich 14 hochbetagten Angeklagten verstarben während des Prozesses. Die neun Verbliebenen erwarten am Mittwoch das Urteil.

Anwalt Seidler hat sich intensiv mit den Aufgaben der Division „Hermann Göring“ und den über 150 Zeugenaussagen auseinandergesetzt, hat Vorwürfe hinterfragt und ist nach eigener Aussage auf erhebliche Fehler in der Anklage gestoßen. Der Osnabrücker Jurist ist sich sicher, dass sein Mandant am Mittwoch freigesprochen wird. Dokumente aus dem militärhistorischen Institut Freiburg seien in wesentlichen Punkten falsch übersetzt worden, Ermittlungen nur einseitig geführt worden, und „das rechtliche Gehör wurde seitens der italienischen Militärstaatsanwaltschaft in sehr vielen Punkten nicht beachtet“, behauptet Seidler.

Der 93-Jährige sei zwar Soldat der besagten Einheit gewesen, habe aber einen Pionierzug geführt und sei dort lediglich für die Ausbildung neuer Soldaten zuständig gewesen. „Mein Mandant war weder in der SS noch in der NSDAP. Er war einfach nicht linientreu im Sinne der Nazis.“ Vermutlich sei der junge Offizier deshalb weder in die Planung noch in die Ausführung der Massaker einbezogen gewesen.

Die Vorwürfe gehen in eine Zeit zurück, als der Zweite Weltkrieg für die deutsche Wehrmacht erkennbar auf eine Niederlage zusteuerte: Als im Sommer 1943 Briten und Amerikaner in Sizilien gelandet waren, wurde der italienische Diktator und Hitler-Verbündete Benito Mussolini kurzerhand abgesetzt.

Die Wehrmacht reagierte unter anderem mit brutaler Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. In zahlreichen Massakern töteten die Soldaten Hunderte Zivilisten. Ganze Dörfer wurden ausgelöscht.

Im Frühjahr des Jahres 1944 sollen auch die Verbrechen geschehen sein, an denen die Staatsanwaltschaft in Verona den neun Angeklagten im Alter zwischen 85 und 93 Jahren eine Mitschuld vorwirft.

Insgesamt geht es um fünf Massaker mit insgesamt 395 Toten. Der Osnabrücker soll laut Anklage zumindest an der Vorbereitung von vier dieser Massaker mit 381 Toten beteiligt gewesen sein. Eine dieser Tötungsaktionen fand im toskanischen Dorf Vallucciole statt. Am 11. April 1944 wurden in der Nähe des Ortes zwei Offiziere der deutschen Wehrmacht von italienischen Partisanen erschossen. Zwei Tage später überfielen Soldaten der Panzerdivision „Hermann Göring“, zu der nur Freiwillige eingezogen wurden, das Bergdorf und ermordeten insgesamt 108 Menschen, fast ausschließlich Frauen und Kinder. Das Dorf brannten sie nieder.

Dass der Prozess erst jetzt, mehr als 65 Jahre nach Kriegsende, geführt wird, liegt ausgerechnet auch an den Italienern selbst. Um Mitte der 1950er-Jahre die Wiederbewaffnung des neuen NATO-Mitglieds Westdeutschland nicht zu behindern, machten die Alliierten Druck auf Italien, Wehrmachtsverbrechen nicht weiterzuverfolgen. Man fürchtete eine heftige Diskussion in der Bundesrepublik, die dem Aufbau der Bundeswehr hätte schaden können. Italien beugte sich diesem Druck und sperrte den Zugang zu 2274 Akten. Diese brisanten Unterlagen wurden in Rom im sogenannten „Armadio della Vergogna“ (Schrank der Schande) verschlossen. Ein italienischer Militärstaatsanwalt entdeckte Mitte der 1990er-Jahre zufällig die vergilbten Akten.

Es folgte nach und nach die Aufarbeitung der zahlreichen Fälle. Seit dem Jahr 2003 ist die Staatsanwaltschaft Dortmund in die Untersuchungen des aktuellen Falles von Verona einbezogen, 2007 und 2008 richteten die Italiener auch Rechtshilfeersuchen an die Staatsanwaltschaft Osnabrück, bestätigte Oberstaatsanwalt Dr. Alexander Retemeyer. Auch Staatsanwalt Thomas Will von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg erklärt: „Die Taten sind hier bekannt und Gegenstand eines umfangreichen Ermittlungsverfahrens.“ Unter dem Aktenzeichen 45 Js 2/04 ist die Zentralstelle im Land Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen damit befasst. Im November 2009 begann schließlich der Prozess gegen die jetzt noch neun Angeklagten vor dem Militärgericht in Verona. Seit mittlerweile 20 Monaten versucht das Gericht herauszuarbeiten, ob die Angeklagten im Jahr 1944 Schuld auf sich geladen haben.

Es ist eine Gerichtsverhandlung, die nach deutschem Recht undenkbar wäre: Denn der gesamte Prozess findet ohne die Angeklagten statt. Wie auch der ehemalige Leutnant war kein einziger der anderen Angeklagten bisher in Verona im Gerichtssaal. „Der Staatsanwalt hat meinen Mandanten noch nie gesehen“, kritisiert der 56-jährige Seidler. Eine Einladung zu einer Vernehmung in Niedersachsen hatte der italienische Jurist abgelehnt. Und für den hochbetagten Angeklagten sei die Reise nach Verona einfach zu beschwerlich.

Dennoch ist die Staatsanwaltschaft von der Schuld aller neun Angeklagten überzeugt. Demnach soll der Osnabrücker zumindest an der Vorbereitung von vier Massakern beteiligt gewesen sein. Aus diesem Grund forderte die Anklage für drei der Massaker die Höchststrafe – im Fall des Osnabrückers dreimal lebenslang. Auch für die anderen acht Wehrmachtsangehörigen plädierte der Staatsanwalt auf lebenslänglich. Der 93-Jährige habe von Anfang an seine Unschuld beteuert, betont Robert Seidler. „Dieser Prozess belastet den alten Herrn sehr.“

Aber selbst wenn die Richter am Mittwoch dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen sollten und eine lebenslange Haftstrafe gegen den Osnabrücker verhängen, muss der Rentner kein Leben hinter Gittern fürchten. „Deutschland liefert seine Bürger grundsätzlich nicht an das Ausland aus“, weiß auch sein Anwalt. Außerdem spräche das hohe Alter von 93 Jahren für eine Haftverschonung.

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